Sonntag, 20. Dezember 2009

Heute geht's Schlag auf Schlag - hier ist die Review zu "One of Them"

Endlich ist es soweit. Ich weiß, „Lost“ war auch schon vor Ben die beste Serie aller Zeiten, aber da wusste man ja noch nicht wie es erst mal mit ihm ist. „Lost“ ohne Ben ist wie Pizza ohne Knoblauch.., manche mögen’s so lieber, aber für die meisten geht’s ohne praktisch nicht, obgleich es auch so schmeckt. Falls ihr euch jetzt fragt, wer dann Käse, Tomatensauce und Oregano sind...: Okay, also Jack eindeutig der Käse, allein schon weil er selbigen ständig redet. Außerdem ist er verdammt zäh und zuviel davon liegt einem noch Stunden später schwer im Magen. Locke ist die Tomatensauce... wäre „Samuel“ dann Ketchup? Okay, ich geb’s zu, ich sollte mir derartige Vergleiche in Zukunft schenken. Also keine Metaphern á la „Wenn du ein Lebensmittel wärst, welches Lebensmittel wärst du dann?“ mehr, stattdessen lieber eine Review zu einer Folge mit sehr viel Tomatensauce.... keine Tomatensauce mehr! Schluss mit der Tomatensauce! Heute wird Filmblut ja auch anders gemacht als früher. 1960 war es noch Schokosauce, die die Dusche hinab in den in den Ausguss lief, heute macht man das anders – mit Gelatine und Lebensmittelfarbe und... ach, egal ich schweife schon ab, bevor ich überhaupt angefangen habe. Also ab auf die Insel, wo Ben schon in einem Netz von einem Baum baumelt, und in den Irak, wo mittlerweile ja mal wieder Krieg herrscht, aber hier ist es noch ein Flashback in die Zeit des Ersten Golfkriegs.

Ich habe recht lange hin- und herüberlegt, wie ich diese Folge am besten angehe, denn sie ist so anders als die anderen Folgen. Versteckte Hinweise gibt es praktisch nicht (von ein paar Erwähnungen der Zahlen – Gale sei 4 Monate auf der Insel, Sayid war beim ersten Golfkrieg 23 – mal abgesehen), dennoch gibt es viel Subtext und somit eine Menge Dinge, die analysiert sein wollen. Die Handlung der Folge ist wohl allen mehr als geläufig und zwar relativ einfach strukturiert aber nichtsdestotrotz spannend. Wirklich interessant sind die Verknüpfungen zwischen den einzelnen Handlungsfäden, die Parallelen zwischen den Charakteren und die Verweise auf die spätere Entwicklung der Beziehung zwischen Ben und Sayid, denn die hat es – wie wir alle wissen – in sich. In fast allen Sayid-zentrischen Folgen, die auf diese noch folgen, spielt Ben eine ähnliche große Rolle wie in dieser.

Der Subtext beginnt ja schon beim Titel „One of Them“/„Einer von Ihnen“. Ohne Frage denken die meisten da zuerst an Ben. Dabei erfahren wir in dieser Folge doch noch gar nicht, ob „Henry Gale“ denn nun tatsächlich einer von Ihnen ist. Sayid hingegen ist für jeden in dieser Folge stets „einer von Ihnen“: für Danielle ist er einer der Losties, für Inman und Austen einer der Iraker, ironischerweise für Tariq wohl einer der Amis und für Ben ist er ebenfalls einer der Losties, der Überlebenden, der anderen. Ben selbst fragt daher genau wie Sayid, als er in Danielles Gefangenschaft war: „Welche Anderen?“ Und die Frage ist nicht mal gelogen, denn wie Locke richtig feststellt, ist dieser Terminus mehr als relativ. Für Ben sind schließlich die Losties „die Anderen“. Wir haben uns so daran gewöhnt Jacobs Anhänger als „Andere“ zu bezeichnen, dass wir es als ihren Namen verinnerlicht haben, obgleich die Anderen von sich selbst bestimmt anders sprechen; was die nicht uninteressante Frage aufwirft, ob sie sich selbst jemals einen Namen gaben oder ob sie schon so lange da sind, dass sie nie auf den Gedanken kamen, sich vom Rest der Welt abzuheben, weil sie einfach zuerst da waren, vor allen anderen – seit Anbeginn der Zeit.

Nicht zum Anbeginn der Zeit, sondern in den frühen Neunzigern beginnt diese Episode und zwar in einem Militärbunker, wo ein paar Irakische Soldaten Papiere schreddern wie Anlagebetrüger vor der Steuerprüfung. Was sie da vernichten, das in den Bomben nicht eh’ untergegangen wäre und auch noch für irgendwen von Interesse wäre, sei jetzt mal dahingestellt. Viel mehr beschäftigt mich die Frage, woher Sayid so gut Englisch kann? Ob es Schicksal ist, dass er so sich und einem anderen Soldaten das Leben retten kann? Kurz darauf behauptet er, es sei kein kommandierender Offizier vor Ort, denn der sei nach Hila geflohen – Tatsache ist jedoch, dass Tariq nur wenige Sekunden, bevor die Amerikaner den Raum stürmen, bekräftigt hat, dass der Soldat seinen Anweisungen folgen solle, weil er nun einmal der kommandierende Offizier sei.

Es gibt in dieser Folge viele Querverbindungen: In Sayids Rückblenden treffen wir sowohl Sam Austen (Kates Vater) wieder als auch Kelvin Inman, der später mit Desmond im Schwan leben und arbeiten wird, ehe er von diesem getötet wird. Mein Mitleid für Inman hält sich allerdings in Grenzen, da er im Begriff ist ein Monster zu erschaffen, das seinerseits jenes Monster wecken wird, das ihm auf der Insel für sein eigenes Empfinden in dieser Folge erstmals begegnen wird. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Weder ist Sayid ein Monster noch Ben, doch in beiden wird ein Monster kreiert, das sich beizeiten seinen Weg nach draußen kämpft. Das macht sie auch so unberechenbar und gleichzeitig so ambivalent wie tragisch. Es ist daher wohl endlich an der Zeit den Vergleich zwischen diesen beiden Charakteren anzugehen, die sich viel ähnlicher sind, als sie wahrhaben wollen.

Als Ben Sayid das erste Mal begegnet, ist Sayid ein Gefangener der Dharma-Initiative, den sowohl Ben als auch die meisten Dharma-Leute für einen der Feinde halten. Dumm für Ben, denn die sogenannten Feinde haben ihn bislang besser behandelt als sein eigener Vater – da gehört zugegeben auch nicht viel dazu. Sayid wird in seiner Gefangenschaft von Ben umsorgt. Ben bringt ihm Essen, leistet ihm Gesellschaft und verhilft ihm letztlich sogar zur Flucht. Was ist der Dank dafür? Sayid versucht, Ben zu erschießen. Sayid will die einzige Person auf dieser Insel töten, die bereit war, ihm zu helfen – ein unschuldiges Kind. Ein unschuldiges Kind? Was war es noch gleich, das Sayid dazu brachte, Tariq zu foltern, ihn an die Amis zu verraten? Ein Video und die Behauptung, Tariq habe militärische Test mit Saringas an unschuldigen Frauen und Kindern durchgeführt – eine Massenvernichtungswaffe, wie es auch eine Wasserstoffbombe ist. Man könnte bald sagen, Sayid sei zu dem geworden, was er jagte – er wäre nicht der erste. Saringas ist ein Nervengas, ein Giftgas – also durchaus vergleichbar mit jenem Stoff, den Charles Widmore nutzte, um die Dharma auszulöschen: eine weitere Parallele zwischen Ben und Sayid – beide befolgten sie Befehle eines Monsters, das um ein Vielfaches sadistischer war, als sie selbst. Charles und Tariq bringen beide die Qualitäten zum Massenmörder und Demagogen mit und würden sich gewiss als Diktatoren recht gut machen – Ben und Sayid befinden sich zu diesem Zeitpunkt noch in einer Position, wo sie nur Befehle befolgen oder verweigern können. Beide wagen es ihre Befehle zu verweigern, doch aus anderen Gründen und aus einer anderen Situation heraus. Sayid verweigert Tariqs Befehle erst, als dieser eh’ nichts mehr zu befehlen hat und Sayid selbst nicht nur Rückendeckung durch die Amis erhält, sondern darüber hinaus sogar deren Befehle entgegennimmt. Sayid verhält sich also mehr als opportunistisch. Und Ben? Ben macht das Befolgen oder Verweigern eines Befehles mit seinem Gewissen aus. Vermutlich hat er oft genug „Königreich der Himmel“ gesehen: „Ein König mag einen Mann fordern, aber seine Seele gehört ihm allein.“ Gegenüber Charles rebelliert Ben vehement und stürzt ihn am Ende sogar. Wir wissen nicht, inwieweit er sich da schon über Jacobs Rückendeckung bewusst war.

Ben wurde in Folge seiner Begegnung mit Sayid verändert. Juliet, Kate, James und Richard wollen Bens Leben retten, doch Richard weiß um den Nachteil: er wird einer von Ihnen werden. Ben wird sein Mitgefühl genommen. Als Ben aus dem Tempel kommt, ist er kein normaler Mensch mehr, er wird etwas anderes: ein einsames, verbittertes Häufchen Elend, das in dem festen Glauben lebt, dass nichts wichtiger ist als der Schutz der Insel. Dieser Aufgabe, dieser Pflicht muss sich alles andere unterordnen – auch er selbst. Die Art und Weise wie Richard hervorhebt, Ben sei, wenn er gerettet würde, ohne Mitleid und ewig einer von Ihnen, suggeriert doch, dass die vollwertigen Anderen sich von normalen Menschen dadurch unterscheiden, dass sie weit rationaler und nicht nach emotionalen Gesichtspunkten handeln. Das würde auch das Verhalten gegenüber den Losties erklären: Sie haben kein Mitleid mit den Losties, weil diese Emotion für sie nicht existiert, nicht existieren darf. Für sie gelten nur Logik und ihr Besitzrecht. Das Problem ist nur: Ben ist offenkundig keine willfährige Maschine – auch nach der Rettung im Tempel nicht. Er empfindet Mitleid, Reue und Einsamkeit. Wie hat er sich also verändert, als er aus dem Tempel kam? Vielleicht liegt genau da das Problem. Denn eines ist offenkundig: seine emotionale Entwicklung findet überhaupt nicht mehr statt. Ben kommt nicht mehr über den Status des einsamen, gequälten und von allen enttäuschten Jungen hinaus, der sich nichts mehr wünscht als Anerkennung und eine Vaterfigur, die ihm ebendiese entgegenbringt. Sowohl Jacob als auch „Samuel“ verstehen diese Schwäche für sich nutzbar zu machen und somit Ben zu instrumentalisieren, ihn zu einer Waffe zu formen, die es ihnen ermöglicht, unerkannt zu blieben. Sie halten die Fäden in der Hand und machen sich so nicht die Finger schmutzig. Die Drecksarbeit darf ein anderer erledigen. Hass und Zorn der Menschen auf der Insel zieht nun Ben auf sich und Jacobs Weste bleibt weiß. Jacob kann der gütige Beschützer bleiben, der allen ihren freien Willen lässt, das Leben bejaht und keiner Menschenseele etwas zu Leide tun würde. Letztlich bleibt eine Frage berechtigter Weise im Raum stehen: „Was ist mit mir?“ Ja, Ben, du bist der Fußabtreter der gesamten Menschheit, Jacobs Opferlamm, sein Prügelknabe und Sündenbock. Wundert einen da Ben Zorn und Verbitterung noch? „Samuel“ hat schon ganz recht: „Die Frage ist doch, Ben: Warum solltest du Jacob nicht töten wollen?“

Aber wie begegnet nun Sayid Ben, als er ihn das erste Mal trifft? Ganz anders als Ben Sayid – so viel ist klar. Aber schauen wir uns doch erst mal an, wie es überhaupt zur Begegnung der beiden kommt: Ana hat Danielle im Wald gesehen und – und das ist wohl wahrlich Ironie des Schicksals – sie hält die verrückte Franzosentussi für eine Andere. Dabei würden Ana und Danielle gut zusammenpassen: beide schießwütig und absolut durchgeknallt; beide haben sie ihr Kind verloren und beide sind sie nicht gut auf die Anderen zu sprechen. Ana sucht nach Jack und findet Wohl oder Übel Sayid. Das ist wohl gleich die nächste Schicksalsfügung dieser Folge. Aber die Aneinanderreihung mysteriöser „Zufälle“ (von denen wissen wir ja: die gibt es, wo Jacob in der Nähe ist, nicht einmal) nimmt damit keineswegs einen Abbruch, denn gleich als nächstes spricht Sayid Danielle auf sein mangelndes Vertrauen an und sie tut genau das, was Locke tat, als er Sayids Vertrauen gewinnen wollte: sie gibt ihm ihre Waffe. Warum Sayid Danielle nicht auch erwidert, dass beweise nur ihre Anpassungsfähigkeit, lass ich mal unbeantwortet im Raum stehen, da ich keine Antwort habe.

Und dann ist endlich Benry-Time. Ben ist gefangen in einem Netz (was für eine hübsche Metapher). Danielle hat Sayid gegenüber behauptet, sie hätte nie einen Anderen gesehen. Komisch, dass der sonst so misstrauische Sayid nicht mal kritisch nachfragt, wie Danielle sich so sicher sein kann, dass „Henry Gale“ einer von Ihnen ist. Wir wissen mittlerweile, dass Ben der einzige Andere ist, den sie je zu Gesicht bekam. Was Ben für sie und Alex getan und riskiert hat, hat sie nie erfahren und wird sie auch nie erfahren. Man kann es Danielle also keineswegs verübeln, dass sie „Henry Gale“ an Sayid übergibt, damit der eine ganz bestimmte Information aus Ben herausholt, die Danielle dereinst von Sayid wollte. Sayid ist ein besserer Folterknecht als Danielle selbst – das ist der einzige Grund, warum Ben nicht auf dem elektrischen Bett (bei ausreichender Voltzahl durchaus eine etwas bequemere Alternative zum elektrischen Stuhl) gelandet ist. Aber zumindest landet ein Pfeil in seiner Schulter – ein Pfeil, der sich im Laufe der Folge noch als erstaunlich biegsam erweisen wird.

Ben verliert das Bewusstsein und Sayid trägt ihn weg. Schnitt: Zwei Soldaten tragen Sayid weg. Ja, in der Folge verstehen es Darlton (die haben die Folge sogar selbst geschrieben) und Stephen Williams (der Regisseur dieser Episode) virtuos mit Bildern, Parallelen und der Gegenüberstellung der beiden Hauptakteure zu spielen.

Inman zeigt Sayid nun das bereits erwähnte Video von den Saringastests. Man sieht auf dem Video wenig und letztlich kann man nur darüber mutmaßen, ob Tariq getan hat, was Inman ihm unterstellt. Zuzutrauen wäre es Tariq zweifelsohne. Allerdings würde ich Inman keine 50cent borgen, denn er ist etwa so vertrauenswürdig wie ein sizilianischer Gebrauchtwarenhändler auf ’ner Bohrinsel (bitte keine Hass-Mails! Ich weiß, es gibt auch zahlreiche Sizilianer, die nicht kriminell sind, sondern nur für die Mafia arbeiten ;-) Spaß beiseite: es ist nur ein dummes Klischee, dessen Gebrauch man mir bitte verzeihen möge). Nichtsdestotrotz sagt Inman etwas sehr interessantes zu Sayid: „Loyalty is a virtue. But unquestioning loyalty – I don't think that's you.“ („Loyalität ist eine Tugend. Aber bedingungslose (bzw. nicht hinterfragende) Loyalität – ich denke nicht, dass das zu dir passt.“)

Willkommen in der Show: Weisheiten, die man auch Ben hätte sagen können! Beschreibt das nicht genau das, was Ben dazu brachte Jacob zu töten? Ben war bedingungslos loyal gegenüber Jacob und dann kam dieser gefakte Glatzkopf und riet ihm, seine Loyalität in Zweifel zu ziehen, zu überdenken, ob Jacob diese Loyalität verdient hätte. Ben und Sayid teilen sich dieses Problem: Loyal sein oder das richtige tun. Bei beiden reichte nur ein falsches Wort von einem Feind und sie kippten um. Die Loyalität vor ihrem eigenen Gewissen galt plötzlich mehr als die Loyalität gegenüber ihrem Befehlshaber. Letztlich spricht das Bände darüber, dass sie gute Menschen in einer schlechten Situation sind/waren. Weder hat Ben es genossen für Jacob Menschen zu entführen oder zu töten, noch hat Sayid es genossen zu foltern und zu morden. Der Unterschied jedoch ist: Ben zweifelt bei jeder dieser Handlungen aufs Neue, während Sayid einem Weg geradlinig folgt, wenn er ihn einmal eingeschlagen hat, bis sich ein Hindernis (etwa Nadia) in den weg stellt. Ben hingegen bleibt in seinem Handeln loyal, weil er ein Treffen mit Jacob anstrebt und die Insel beschützen will. In seinen Gedanken ist Ben jedoch längst nicht so loyal wie man meinen könnte. Wie oft hat er schon gezögert, Jacob zuwider gehandelt oder ihn in Zweifel gezogen? Im Endergebnis tut er aber, was ihm aufgetragen wird – selbst wenn das bedeutet, der Insel den Rücken zu kehren, alles aufzugeben, was ihm wichtig ist und die Chance auf ein Treffen mit Jacob womöglich für immer zu verspielen.

Ob Ben nun wirklich auf Jacobs (vermeintliches) Geheiß im Schwan landet oder es ihm einzig und allein um eine OP (er ist offenkundig Kassenpatient) geht, kann man nur mutmaßen. Er weiß aber, wen er mit Sayid vor sich hat, soviel ist sicher, denn Ben hat seine Hausaufgaben stets gemacht. Er weiß immer alles über Freund und Feind, was sich zu wissen lohnt, weshalb er wohl schon ahnen dürfte, was ihm blüht. Das demonstriert sowohl seine Willensstärke als auch seine Verzweiflung... okay, vielleicht ist er auch einfach ein Masochist und fühlt sich an Daddy erinnert, wenn ihm mal wieder einer das Gesicht zu Brei schlägt oder ihm ’ne Bierdose an die Rübe semmelt. Offen bleibt wohl die Frage, an was aus dieser Zeit er sich überhaupt noch erinnert. Er hat drei Jahre mit Juliet und Sawyer Tür an Tür gelebt, wenn diese drei Jahre weg wären, wäre praktisch alles, was ihm vor seinem Besuch im Tempel auf der Insel passiert ist, futsch. Ist das wahrscheinlich? Nein, ist es nicht. An was kann er sich also alles erinnern? Auf jeden Fall an mehr als er zugibt. Ganz abgesehen davon, vergisst man nie ganz. Dinge, die man verdrängt hat oder die im Unterbewusstsein schlummern, sind dennoch da. Das Gehirn speichert alles, nur können wir auf das wenigste davon gezielt zugreifen (wie bei einem PC: das Meiste landet im Papierkorb, der allerdings in diesem Falle nie geleert wird), was jedoch nicht bedeutet, das unser Unterbewusstsein es nicht wüsste. So gab es schon Fälle, wo selbst Erlebnisse aus der Zeit im Mutterleib Phobien auslösten. Ein Teil von Ben erinnert sich also auf jeden Fall an Sayid.

Bens Talent zu Planung und Improvisation gleichermaßen demonstriert er hier von Anfang an eindrucksvoll. So baut er auch die von Danielle immer wieder erwähnte Seuche in seine Geschichte ein und behauptet, dass seine Frau krank geworden und gestorben sei. Als man ihn nach den Anderen fragt, lautet seine Antwort: „Other? What?“ („Anderer? Was?“). Auch im weiteren Verlauf bleibt er bei seiner Geschichte und schmückt sie durch viele Halbwahrheiten aus. Ich sag mal so: das, was Ben Sayid erzählt, klingt objektivgesehen überzeugender als der zusammengestammelte Kram, den Sayid Danielle damals auftischte – die Pointe dürfte bekannt sein. Folglich stellt Locke auch fest: „I think he's pretty convincing.“ („Ich finde, er ist recht überzeugend.“)

Locke mutmaßt auch, Sayid suche vielleicht nur jemanden, an dem er seine Aggressionen für Shannons Tod auslassen kann („If you're angry – looking for someone to punish...“) – Ben ist also so eine Art lebender Punchingball, oder was? Mit Zorn wiederum kennt Locke sich ja bestens aus. Am Ende der Folge wird offenbar, dass Locke mit seiner Vermutung ganz recht hatte.

Sayid suggeriert Locke, was er vor hat, und meint, dass Locke ihm helfen solle, das überaus fragwürdige Vorhaben in die Tat umzusetzen. Sayid sagt: „And I think we both know that Jack will have issues with what must be done in order to get it.“ („Und ich denke, dass wir uns beide darüber im Klaren sind, dass Jack Einwände haben dürfte bei dem, was getan werden muss, um sie [die Gewissheit] zu erlangen.“) „Issues“? Das als Euphemismus zu bezeichnen, wäre selbst einer. Die reden über eine geplante Folter wie übers Kaffeekochen. Dass Jack nach dem, was mit Sawyer passiert ist, Einwände haben dürfte, überrascht kaum. Mich überrascht vielmehr, dass Locke keine hat. Immerhin reden wir hier von dem wohl Verachtenswertesten, das ein Mensch einem anderen antun kann, obendrein lediglich gestützt auf die Aussage einer völlig durchgeknallten Französin. Wir wissen zwar, dass sie recht hatte, aber das mildert die Tat in keinster Weise ab. Grundlegend war Sayid dazu bereit einen womöglich unschuldigen Mann zu foltern, weil er vielleicht zu einer Gruppe von Menschen gehören könnte, über deren wahre Motive und Absichten er nicht einmal etwas weiß. Ganz abgesehen davon, ist Folter prinzipiell nur schwerlich zu rechtfertigen, da sie einzig und allein den Zweck verfolgt, den Gegenüber leiden zu lassen, um etwas von ihm zu erfahren, von dem man mutmaßt, er wisse es – folglich ist es nicht einmal eine unmittelbare Prävention. Sayids Vermutung ist aber mit Sicherheit kein ausreichender Grund und ein abgestürzter Helikopter genauso wenig. Sayid bezeichnet das, was er tut, als er erst mal mit Ben allein ist als „was getan werden muss“. Muss? Wieso muss das getan werden? Jetzt mal ehrlich: was hat Sayid, was hat irgendwer davon, dass Sayid Ben foltert? Selbst wenn Ben zugibt, was Sayid hören will, ist dadurch doch nichts gewonnen. John rechtfertigt die Tat vor Jack mit dem Krieg, für den sich Jack und Ana rüsten wollen. Ja...öhm...und weiter? Das Wissen darum, dass Ben ein Anderer ist, wäre nur sinnvoll, wenn man im gleichen Stil weitermachen würde, um ihm irgendwelche nützlichen Informationen zu entlocken. Allerdings gibt es nichts wirklich nützliches, das Ben ihnen sagen könnte, was sie dann auch glauben würden.

Sayid ist also mit Ben allein und Jack versucht die Waffenkammer zu öffnen. Er scheitert und fragt John: „Why isn't this combination working, John? Did you change it?“ („Warum funktioniert die Kombination nicht, John? Hast du sie geändert?“) Boah, wat’n Schnellmerker! Wiedereinmal geht der Preis für die dümmste Frage der heutigen Folge an Jack! Ebenfalls nominiert waren: „Sayid, hey, what the hell are you doing?“ („Sayid, hey, was zur Hölle machst du da?“) – ebenfalls ein klassischer Jack, weshalb sich hier auch „You think I'm stupid?“ („Hältst du mich für bescheuert?“) anschließt (nein, Jack, denn das würde voraussetzen, dass wir es lediglich vermuten) – und außerdem „You would risk everyone's lives?“ („Du würdest eines jeden Leben riskieren?“) – fast schon prophetisch, dass John Jack das fragt.

Ben sagt ein paar Mal durchaus die Wahrheit während des „Verhörs“. So entgegnet er Sayid etwa: „Look, whatever you think I am, I'm not.“ („Guck mal, was immer du glaubst, das ich bin, ich bin es nicht.“). Stimmt von einem gewissen Standpunkt aus sogar und wird ewig stimmen. Sayid hält Ben stets für etwas, das er nicht ist: ein Monster. Man könnte echt meinen, Ben hätte einen Spiegel vorm Gesicht.

Interessant ist auch, dass das, was Sayid Ben über sich erzählt, in groben Zügen auch auf Ben selbst zutrifft. Sayid sagt, er sei ein guter Mensch gewesen und der Krieg habe in ihm das schlimmste zum Vorschein gebracht. Bei Ben war es ein schießwütiger Iraker, der seine dunkle Seite weckte.

Der Alarm geht los und Jack sieht seine Chance (übrigens hört man Ben und Sayid die ganze Zeit im Hintergrund, ist mir vorher nie so aufgefallen). Obgleich Jack mit dem, was er beabsichtigt, absolut recht hat, sind seine Methoden, um an sein Ziel zu kommen, typisch erpresserisch und obendrein lebensmüde. Aber es funktioniert: John öffnet die Tür zur Waffenkammer und stürmt in den Dom. Er vertippt sich – mal wieder. Der Zähler hat die Null erreicht und die erste Hieroglyphe erscheint. Letztlich bekommen wir drei der fünf Zeichen zu sehen: eine Feuerstelle/Flamme (Jacob lässt grüßen), ein Schmutzgeier und zu guter letzt der Determinativ (ein stummes Zusatzzeichen zur Unterscheidung von Wörtern mit gleichem Konsonantenbestand, da die Vokale im Altägyptischen nicht wiedergegeben werden) für Tod, der entfernte Ähnlichkeit mit stilisierten Darstellung des Haupts eines Schakals hat – ein Zufall? Ich glaube nicht an Zufälle. Für alle, die es gerade nicht auf dem Schirm haben: der Schakal ist das Schutztier des Anubis, also der Hüter der Unterwelt.

Jack zieht Sayid aus der Waffenkammer und Ben wirft Sayid einen bedeutungsschwangeren Blick zu. Runde Eins geht an Ben – alle noch folgenden Runden aber auch^^. Jetzt spricht Jack den entscheidenden Knackpunkt aus: „I think that Rousseau thought that about you once, Sayid. If I'm not mistaken she strapped you down, she shocked you, all because she thought you were one of Them.“ („Ich denke, dass Rousseau einst das Gleiche über dich dachte, Sayid. Wenn ich mich nicht irre, band sich dich fest, setzte dich unter Strom, alles weil sie dachte, du wärest einer von Ihnen.“) Hätte man kaum besser sagen können. Jack bringt es auf den Punkt: Ob Ben ein Anderer ist oder nicht, ist bedeutungslos – in dubio pro reo! Der Zweifel genügt, um Ben in Frieden zu lassen. Leider verhält sich Jack viel zu selten nach diesem Grundsatz, aber in Sachen Folter hat er seine Lektion wohl gelernt. Aber das Problem ist ja, Sayid will seine Zweifel durch die Folter ausräumen. Das ist zugegeben ein Dilemma. Aber es bleibt auch hier weiterhin die Frage, was Sayid von der Sicherheit hätte. Denn ginge es ihm nur darum, seine Zweifel auszuräumen, hätte Ben es ja gefahrlos zugeben können, dass er einer von Ihnen ist. Sayid belügt sich wiedereinmal selbst. Er kann Ana nicht für Shannons Tod verprügeln, also sucht er sich wen anders. Ganz abgesehen davon, dass er Nadias Unglück auf Shannon projiziert hat und Ben nun für beide bluten muss. Das ist wohl Bens Schicksal: Nicht nur für die eigenen Fehler Prügel kassieren, sondern auch für die anderer. Wie bereits gesagt: der Sündenbock.

Ehe wir von dem folternden Iraker zum folternden Baumfrosch übergehen, reisen wir noch ein letztes Mal in den Irak. Eigentlich eine interessante Kulisse. Um es mit den Worten des von mir sehr verehrten Volker Pispers zu sagen: das Arschloch bleibt im Wandschrank. Sam Austen zeigt ein Bild von Klein-Katie rum, als der LKW hält. Jetzt offenbart sich, dass Inman Sayid gar nicht gebraucht hätte, denn er spricht fließend Arabisch. Apropos: Ben spricht nicht nur fließend Arabisch, sondern auch Türkisch, Latein und höchstwahrscheinlich Deutsch, Französisch und Portugiesisch (sonst würden seine geheimen Identität nicht viel nützen, um unterzutauchen). Inman zumindest hätte Sayid nicht gebraucht, er hat ihn also aus einem anderen Grund, dazu gebracht Tariq zu foltern. Was also veranlasste Inman dazu, Sayid so zu formen? Das Problem ist: ich könnte nicht einmal sagen, ob diese Lehrstunde in Folter nun zu Sayids Vor- oder Nachteil war.

Kommen wir aber nun wie versprochen zum Folter-Forsch. Sawyer hat also mal wieder Ärger mit einem der tierischen Ureinwohner. Vermutlich ist der Baumfrosch die Reinkarnation irgendeines Typen, den James mal abgezockt hat ;-). Okay, es könnte auch einfach nur ein Baumfrosch sein. Auf der Suche nach der kleinen Nervensäge deckt Sawyer Hurleys geheimes Laster auf. Wobei so geheim war es nun auch nicht, denn Hurley ist – wie er selbst sagt – nun einmal: „Fat, fat, fat, fat, fat. You think I don't know that?“ (Fett, fett, fett, fett, fett. Glaubst du denn das weiß ich nicht?“) Ich kann Hurley so gut verstehen. Auch wenn ich bestimmt 42kg weniger auf die Waage bringe, kenn ich das Problem mit Leuten, die meinen, sie müssten einen auf etwas so offensichtliches hinweisen. „Eye, du bist dick!“ – „Ach, echt? Ist mir noch gar nicht aufgefallen. Jetzt versteh ich endlich, warum ich es so schwer hab passende Klamotten zu finden. Danke!“ Als Sawyer den Frosch dann hat, macht er auch gleich kurzen Prozess mit ihm.

Und da kann man nur sagen, dass diese Aussage auf die Losties mindestens genauso zutrifft wie auf die Anderen, wenn nicht gar noch mehr: „That these people – these Others – are merciless, and can take any one of us whenever they choose“ („Dass diese Leute – die Anderen – mitleidlos sind und jeden von uns nehmen können, wann immer sie wollen.“)

7 Kommentare:

  1. wunderbar geschrieben. vorallem das ende hinterlässt einen bleibenden eindruck.

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  2. der arme Frosch...


    warum Inman den lieben Sayid benutzt, um Tariq zu foltern?
    Da gibt es diverse Ideen:

    - um nicht zu zeigen, dass er irakisch sprechen kann
    - um Sayid einfach zu testen
    - um sich nicht nachsagen lassen zu können, dass man selber gefoltert hat
    - um Tariq schneller zum Reden zu bekommen, denn wenn mich ein Landsmann für den Feind foltert, zerstört das (teilweise) mein Weltbild

    etc

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  3. Ich hab die Frage ja mal bewusst im Raum stehen lassen, denn theoretisch könnte man auch diesen Wendepunkt in Sayids Leben auf die Intervention einer höheren Macht zurückführen.


    Ach, Irakisch ist überigens keine Sprache. Amtssprachen ist im Irak neben Arabisch noch Kurdisch, aber ich gehe mal davon aus, dass sowohl Inman als auch Sayid hier Arabisch sprechen. Vielleicht ist ja irgendwo ein Araber in der Nähe, der uns da weiterhelfen kann. Hallo?

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  4. Bin Marokkaner und Sayid spricht in der Serie (meistens) arabisch mit nem indischen Akzent :) hehe
    aber liegt ja daran , dass Naveen Andrews auch indisches Blut hat .. trotzdem spricht er sehr gut.

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  5. Hilfe! Ein Araber!^^ Nein, ich weiß marokko gehört weder zu Arabien noch gibt es einen Grund sich ernsthaft vor Aravern zu fürchten. Hab zuviel serdar Somuncu geguckt.... von wegen unser schöner Wohlstand könne von einem Araber zerstört werden... oder von einem Meteorit...oder einem arabischen Meteorit^^

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  6. Wäre die Sache mit dem vermeintlich geänderten schlosscode nicht ein Indiz für eine Schleife? Vielleicht ist es nicht nicht immer die gleiche, da sich ja scheinbar immer Kleinigkeiten ändern, die Jack wohl mächtig in die Suppe spucken.

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  7. Wenn er sich in den Schleifen anders verhält, verändern sie sich folglich auch minimal ;-)
    Die Frage war trotzdem selten dämlich - sogar für Jack

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