Samstag, 31. Oktober 2009

Happy Halloween!

Lost Halloween Special

Heute ist es endlich soweit: Halloween. Und ich dachte mir warum nicht zur Abwechslung mal ein kleines Halloween-Special – zum einen weil ich mal etwas Zerstreuung von den Reviews brauchte und zum anderen weil ich sowieso schon seit Wochen überlege, was ich an Halloween, Weihnachten und Silvester für das Blog machen will. Auch wenn es eigentlich überflüssig zu sagen ist: Dieses kleine Special ist auch als Fan-Fiction absolut nicht ernst zu nehmen, ganz im Gegenteil: es ist viel mehr eine Parodie oder gar ein Pastiche und daher im klassischen „Lost“-Stil mit Rückblenden, Querverweisen, Enthüllungen und allem was sonst so dazu gehört gehalten. Deshalb werden zwangsläufig auch ernste Töne angeschlagen, aber der Humor sollte am Ende doch nicht zu kurz kommen. Also, viel Spaß:



Bens Halloween




„Findest du es nicht etwas merkwürdig ein solches Brauchtum plötzlich wiederzubeleben, Dad?“, fragte Alex und sah Ben aufmüpfig an, wie sie es immer tat, wenn sie ihren Vater aus der Reserve locken wollte. Ben war wie immer sichtlich unbeeindruckt. Er saß ihr gegenüber am Esstisch und sah für seine Antwort nicht einmal von dem Roman auf, in dem er las.

„Ich habe dir bereits erklärt, dass wir es vor allem wegen Zach und Emma machen“, erwiderte er. „Es ist schwer genug für sie. Als du jünger warst bis du auch noch mit Karl um die Häuser gezogen.“

„Ja, um alle siebzehn“, entgegnete Alex schnippisch. „Ich hatte echt ’ne tolle Kindheit und jede Menge Freunde!“

„Ich garantiere dir“, setzte Ben an, machte eine gezielte Kunstpause, in der er den Stephen-King-Roman beiseite legte und die Brille abnahm, „deine Kindheit war um ein vielfaches besser als meine. Wenn mein Vater... .“

„Glaub bloß nicht, du wärst ein Bilderbuchvater gewesen, Dad“, zischte Alex.

„Wenn mein Vater mir Zuneigung vermitteln wollte, hat er die Bierdosen ausgetrunken, ehe er damit nach mir geworfen hat“, fuhr Ben fort. „Mein Vater war ständig besoffen, hat mich geschlagen und mir die Schuld am Tod deiner Großmutter gegeben. Selbst als man mich nach dem Vorfall an der Schwanbaustelle schwer verwundet im Dschungel fand, hatte dein Großvater nichts besseres zu tun, als mich, kaum dass es mir wieder besser ging, wegen irgendwelcher gestohlenen Schlüssel grün und blau zu schlagen.“

„Das hast du mir nie erzählt“, sagte Alex.

„Warum auch?“, fragte Ben. „Er ist seit zwölf Jahren tot.“ Ben schwieg und sah gedankenverloren zum Fenster, durch das er vage eine Kürbislaterne vor Juliets Haus ausmachen konnte. Ben sagte nicht, dass Roger der einzige Mensch war, den er wohl auch ohne Befehl von Jacob oder Charles früher oder später umgebracht hätte. Alex zweifelte sowieso schon an ihm, warum sollte er ihr diesen Abgrund seiner Seele offenbaren.



31.12.1976:

„Du gehst also als Transe im Bademantel?“, fragte Roger und trank einen weiteren Schluck Bier. Bens Vater lag quer über der Couch und sah seinen Sohn mit einer Mischung aus Belustigung und Abscheu an.

„Das ist Norman Bates, Dad“, erwiderte Ben. „Bei den gegebenen Möglichkeiten muss man sich schon was einfallen lassen.“

„Immer noch besser als letztes Jahr“, sagte Roger und drehte sich gelangweilt dem Fernseher zu. Ben überlegte kurz, was er letztes Jahr getragen hatte, während er in der Küche nach einem großen Messer suchte. Dann fiel es ihm ein und er konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, als ihm das Gesicht seines Vaters wieder einfiel, als er mit einem Eyeliner in der Hand erklärt hatte, er ginge als Richard Alpert. Annie hatte sich über diesen Einfall köstlich amüsiert. „Pass auf, dass Radzinsky dich nicht erschießt“, hatte sie gesagt. „’Er ist einer der Feinde! Erschießt ihn! Erschießt ihn!’ Ich glaub irgendwann erwischt der sich mit seiner Schrotflinte noch mal selbst, so schießwütig wie er ist.“

Roger war aufgestanden, um noch ein Bier aus dem Kühlschrank zu holen. Ben hielt jetzt ein großes, glänzendes Fleischermesser in der Hand.

„Komm bloß nicht auf dumme Gedanken“, meinte Roger, als er das Messer in Bens Hand sah. „Nachher bringst du mir noch die ganze Initiative um... wobei das eigentlich ein Dienst an der Menschheit wäre, diese Pfeifen allesamt zu vergasen.“ Den letzten Satz sprach er schon in den Kühlschrank, in den er auf der Suche nach Bier so tief hineinkroch, dass Ben die Hoffnung hegte, er würde drin festfrieren.

Es klopfte an der Tür.



„Es hat geklopft, Dad.“

„Ich hab’s gehört, Alex“, antwortete Ben und sah noch immer aus dem Fenster, einen Arm auf dem Tisch abgestützt, die Hand am Kinn.

„Willst du nicht aufmachen?“, hakte Alex ungeduldig nach.

„Doch, doch“, murmelte Ben und setzte seine Brille wieder auf. „Aber sie sollen ja nicht denken, man würde auf sie warten. Würde da nicht der Reiz von Halloween verloren gehen?“

„Wie du meinst“, erwiderte Alex und stand auf. „Aber ich kratz die Eier morgen nicht von der Fensterscheibe!“

„Warum? Hast du was gegen kostenloses Spiegelei?“, rief Ben ihr hinterher, als sie in ihrem Zimmer verschwand, und ging zur Tür. Draußen standen Zach, Emma und Karl.

„Alex ist in ihrem Zimmer“, sagte er an Karl gewand und sah ihm misstrauisch hinterher, als er an Ben vorbei ins Haus ging. „Und nun zu euch beiden.“

Zach und Emma sahen zu Ben auf. Er bemerkte, dass sie offenbar eingeschüchtert waren, vielleicht sogar Angst vor ihm hatten. Er hockte sich hin. Emma hatte einen spitzen, schwarzen Hut auf dem Kopf und war mit dem grauen Pullover, der roten Krawatte und dem überhaupt so schulmädchenhaften Outfit unschwer als irgendeine Figur aus Harry Potter zu erkennen. Ben wusste, dass die Bücher bei Alex im Schrank standen, konnte sich aber seit Jahren nicht überwinden, eines der Bücher zu lesen. Er würde ja nicht einmal offen zugeben Stephen-King-Fan zu sein. Zach trug zerschlissene Kleidung und hatte sich einen buschigen, zerrupften Bart angeklebt.

„Ich höre?“, sagte Ben. Die Kinder schwiegen verschüchtert. „Also, wer Lord Volde-was-auch-immer bekämpft, wird doch wohl vor mir keine Angst haben.“

„Es heißt ‚Voldemort’, aber den Namen darf man nicht sagen“, verkündete Emma.

„Wieso das nicht?“, fragte Ben.

„Eine Schande, dass jemand, der Harry Potters Brille trägt, das nicht weiß“, stichelte Alex und quetschte sich mit Karl im Schlepptau an ihrem Vater, der augenblicklich kerzengerade stand, vorbei.

„Wo wollt ihr hin?“, fragte Ben missmutig.

„Zu Karl nachhause“, erwiderte Alex. „Du hast ja keinen DVD-Player.“

„Wie? Wo? Was? Wozu?“, stammelte Ben, während Alex ihm genervt eine DVD-Hülle vor die Nase hielt.

„Hat Tom von seiner letzten Festland-Tour mitgebracht“, erklärte Karl. „Genau das richtige für den Halloween-Abend, Mr. Linus.“

Ben nahm die DVD aus Alex Hand und wusste mit einem Blick auf die Altersempfehlung, dass es zwar nichts brächte mit seiner Tochter darüber einen Streit vom Zaun zu brechen, aber auch dass er ein ernstes Wörtchen mit Tom sprechen musste.

„’Saw’?“, stieß er dann aus. „Wie ‚Säge’ oder wie ‚Sehen’? Immer diese nichtssagenden Titel, die nur aus einem englischen Wort bestehen. Da weiß keiner, was einen erwartet. Und wer zur Hölle ist Michael Emerson?“

„Ich würde mal tippen ein Schauspieler, wenn der Name dahinten drauf steht“, erwiderte Alex und riss ihrem Vater die DVD aus der Hand. „Und da es da um einen Killer mit Fable für Psychospielchen geht, ist es auch nicht viel anders als ein Spieleabend mit dir, Dad.“

„Ich lach mich tot“, entgegnete Ben.

„Ich wünschte dem wär’ so“, meinte Alex und zog mit Karl von dannen.

Ben seufzte und wandte sich wieder den Kindern zu: „Also? Was kann ich für... .“ Er überlegte und riet dann ins Blaue: „Was kann ich für Hermine Gra... .“

„Ich bin Ginny“, protestierte Emma.

„Machen Sie sich nichts draus, das hat keiner erkannt“, sagte Zach. „Sie hat nichts gefunden, um die Haare rot zu färben. Tom meinte, bei ihrem Namen wäre Hermine auch passender gewesen.“

Ben dachte kurz nach und beschloss dann, nicht nachzuhaken. Stattdessen wandte er sich an Zach, der mit seinem angeklebten, buschigen Bart, den langen Haaren und der zerschlissenen Kleidung aussah wie irgendein x-beliebiger Hinterwäldler: „Also, wenn Ginny und du, kleiner Landstreicher... .“

„Ich bin kein Landstreicher“, stieß Zach empört aus.

„Sondern?“, fragte Ben.

„Ich bin Jacob.“

„Woher willst du wissen, dass Jacob so aussieht?“, wollte Ben wissen.

„Etwa nicht?“, hakte Zach nach. „Oder wissen Sie etwa nicht, wie Er aussieht?“

„Doch, doch natürlich“, log Ben. „Du hast ihn schon ganz gut getroffen. Er wohnt ja einsam im Wald.“

„Siehst du, hab ich’s doch gewusst“, sagte Zach zu seiner Schwester und streckte ihr die Zunge raus. „Und du dachtest Jacob sei ein rasierter Jesus-Verschnitt mit weißem Hemd und Flip-Flops!“

„Aber warum sollte der mächtigste Mann auf diesem ollen Eiland aussehen wie eine Mischung aus Hinterwäldler und Werwolf?“, erwiderte Emma hitzig.

„Warum denn nicht?“, fauchte Zach. „Wahrhaft große Männer können sich das leisten!“

„Euch muss schon klar sein, dass es ohne Halloween-Parole keine Süßigkeiten gibt“, warf Ben ein. „Also? Ich höre?“



„Wenn ich noch einen Apollo-Schokoriegel bekomme, benutz ich das Messer doch noch“, sagte Ben mit einem Blick in die Tasche. Er und Annie waren jetzt etwa 42 Minuten unterwegs und an den acht Häusern, die sie bislang besucht hatten, hatten sie fast nur Schokoriegel der Apollo-Candy-Company bekommen.

„Lass das bloß nicht LaFleur hören“, tadelte ihn Annie.

„Wenn man vom Teufel spricht“, sagte Ben und deutete auf eine hochgewachsene Gestalt im Vampirkostüm, die auf sie zukam.

„Es könnte sein, dass dieser ‚Teufel’ dir früher oder später das Blut aussaugt, Harry Potter“, sagte James und öffnete den Mund, damit man die angeklebten Vampirzähne sehen konnte.

„Das ist Norman Bates“, stöhnte Ben und dachte: Wer um alles in der Welt ist ‚Harry Potter’?

„Wieso überrascht mich das nicht?“, erwiderte James.

„Was überrascht Sie nicht, Mr. LaFleur?“, wollte Annie wissen.

„Dass unser kleiner Mr. Spock sich als durchgeknallter Psycho-Killer verkleidet“, antwortete James, woraufhin Ben genervt die Augen verdrehte. „Er hat so was verschlagenes.“

„Glauben Sie also, dass ich Karriere als Trickbetrüger oder Dharma-Sicherheitschef mache?“, konterte Ben. „Denn andere Berufe, bei denen man verschlagen sein muss, fallen mir nicht ein!“

„Man muss ja nicht von Berufswegen verschlagen sein, Sméagol“, meinte James. „Ganz abgesehen davon könntest du auch Politiker werden oder Jurist. Oder aber du lernst was normales und verarscht die Leute dann in deiner Freizeit.“

„Bringen Sie ihn nicht auf dumme Gedanken“, warnte Annie. „Am Ende setzt er das noch in die Tat um.“

„Schwer auf dieser Insel“ erwiderte Ben. „Das schlimmste was ich machen könnte, ohne dass Mr. LaFleur es mitbekommt, wäre meinem Vater die Generalschlüssel zu klauen!“

„James!“, rief Juliet von weitem und kam dann näher. „Was machst du denn hier? Ich warte schon vier Minuten auf dich. Oh, Hallo, Ben! Annie!“

„Guten Abend, Miss Burke“, trällerten die beiden müde, als würden sie ihre Lehrerin in der Schule begrüßen.

„James, kommst du?“



„Richard!“

Er erkannte die Stimme und blieb abrupt stehen und drehte sich um, obwohl er eigentlich wichtigeres zu tun hatte.

„Was ist, Juliet?“, fragte Richard und trat an Juliets Haus heran.

„Hast du einen Moment Zeit?“ , erwiderte Juliet und machte klar, dass Richard unmöglich mit „Nein“ antworten konnte, weshalb er auch bis vors Haus kam und „Na, klar“ sagte.

„Lange nicht gesehen“, meinte Juliet. „Du hast dich gar nicht verändert.“

„Den Witz hat Ben schon vor 23 Jahren das erste Mal gemacht“, entgegnete Richard und trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen.

„Du warst also bei meiner Schwester?“, wollte Juliet wissen und sah Richard eindringlich an.

„Ja“, bestätigte dieser und steckte einen Zettel in die Hosentasche, den er zuvor in der Hand versteckt hatte.

„Und sie ist wirklich gesund?“, hakte Juliet weiter nach.

„Ja, Jacob hat sie geheilt“, erklärte Richard.

„Wäre es möglich, dass auch von Ihm persönlich zu hören?“, fragte Juliet.

„Du weißt ganz genau, dass das nicht geht“, erwiderte Richard und sah zu Boden.

„Du kommst gerade von Ihm, nicht wahr?“, vermutete Juliet und fügte, als Richard leicht nickte, hinzu: „Neue Anweisungen für Ben?“

„Das wirst du Ben fragen müssen“, wich Richard aus.

„Warum ist er so besessen davon?“, fragte Juliet. „Von mir? Von dieser ganzen Geschichte mit Schwangerschaftskompliaktionen? Warum heilt Jacob sie nicht selbst, wenn es ihm so wichtig ist?“

„Jacob will dich nicht deswegen hier behalten“, gestand Richard. „Jacob hat dich erwählt, damit du einen ganz bestimmten Menschen rettest. Das mit den Babys ist mehr Bens ganz persönliche Besessenheit.“

„Aber wieso?“, stieß Juliet aus.

„Wegen seiner Tochter, natürlich“, erwiderte Richard.

„Wieso? Ist Alex schwanger?“, fragte Juliet ein wenig belustigt.

„Nein“, dementierte Richard und konnte sich ein leichtes Schmunzeln nicht verkneifen. „Das war vor Alex. Vor etwa 16 Jahren starb das erste mal eine Frau auf dieser Insel am Ende der Schwangerschaft. Das war vier Wochen nach Karls Geburt und etwa acht bevor Ben sich Alex’ annahm.“

„Wer war sie?“, fragte Juliet.

„Ihr Name war Annie“, erklärte Richard.



„Was für ein Problem hat der mit mir?“, beschwerte sich Ben. „Der guckt mich immer an, als würde er erwarten, dass ich ihn in einen Bärenkäfig sperre und mit ’nem Stock verprügel’!“

„Das bildest du dir ein“, versuchte Annie Ben zu besänftigen. „LaFleur verdächtig prinzipiell jeden. Außer Juliet und vielleicht noch Miles traut er keinem über den Weg. Sag mir mal lieber, ob wir als nächstes zu Chang, Lewis oder Goodspeed gehen?“

„Ich weiß nicht. Ich schätze mal, dass Dr. Chang und Horace bei der Feier sind, oder?“, sagte Ben.

„Also gehen wir zu den Lewis’“, beschloss Annie daraufhin.

„Aber ich klettre nicht in den Wandschrank“, erwiderte Ben und eilte Annie hinterher, die ihre Hand schon fast an der Tür hatte.

Jeanette Lewis öffnete ihnen die Tür.

„Ach, ihr zwei seid’s“, sagte Jeanette.

„Wen haben Sie denn erwartet, Mrs. Lewis?“, fragte Ben.

„Eigentlich hatte Amelia vor auf Charlotte aufzupassen, aber sie kommt wohl nicht“, erklärte Jeanette und sah sich draußen um, als wolle sie sich vergewissern, dass Amelia Rom nicht hinter irgendeinem Busch wartete. „David und ich wollten eigentlich noch zu der Feier.“ Ben dachte nur: Sag es nicht, Annie, sag es nicht! Aber natürlich sagte sie es: „Wir könnten Charlotte ja mitnehmen und wenn wir unsere Runde beendet haben, noch etwas auf sie aufpassen.



„Und weiter?“, bohrte Juliet. „Was war an Annie so besonders? Außer das sie die erste war? Oder... warte, Moment... soll, dass heißen... .“

„Ja“, bestätigte Richard. „Das erste Kind, was auf dieser Insel tot geboren wurde, war Bens Tochter. Die drei Personen, die Ben am meisten bedeuteten, starben alle durch Komplikationen am Ende der Schwangerschaft: seine Mutter Emily, Annie und seine Tochter Juliet.“

„Juliet?“, fragte Juliet ungläubig.

„Er wollte sie nach der Frau benennen, die ihm das Leben gerettet hatte“, erklärte Richard. „Ein Bild von ihr hängt noch immer in Bens Wohnzimmer. Als er zwölf war, wurde Ben angeschossen und ehe man ihn zu mir brachte, hat sie ihn behandelt, am Leben gehalten.“

„Von so etwas redet er ausgesprochen selten“, stellte Juliet fest. „Aber es erklärt einiges.“

„Du magst ihn nicht sonderlich, wie?“, fragte Richard.

„Wen?“

„Ben – du kannst ihn nicht leiden“, stellte Richard fest. „Tröste dich: die wenigsten tun das. Doch wir alle akzeptieren, dass Jacob ihn auserwählt hat und dass unser Überleben maßgeblich von seinem abhängig ist.“

„Aber kennst du die Kriterien nach denen Jacob ihn auserwählt hat?“, fragte Juliet.

„Ich stelle Jacob nicht in Frage, Juliet, das steht mir nicht zu“, wich Richard aus. „Niemandem steht das zu, nicht einmal Ben. Jacob hat einen Plan und er weiß, was er tut. Er ist überaus weitsichtig und niemand steht ohne Grund auf der Liste, auch du nicht.“



Es war schon nach Mitternacht, als Ben heimging. Einige Erwachsene waren noch auf der Party. Ben hatte die letzten vier Stunden mit Annie und Charlotte verbracht, bis Charlottes Eltern heim gekommen waren.

„Nettes Kostüm“, rief ihm ein Mann zu, der auf der Schaukel am Spielplatz saß. „War der Abend ertragreich?“

Ben trat näher. Der Mann war groß und schlank, doch von seinem Gesicht war kaum etwas zu erkennen – nicht so sehr weil es so dunkel war, sondern vor allem, weil das Kostüm des Fremden nur zwei schmale Schlitze für Augen und Mund frei ließ. Doch obwohl Ben nicht einmal erahnen konnte, wer der Mann war, kam er ihm merkwürdig vertraut vor, als kenne er ihn schon sein ganzes Leben.

„Es geht“, murmelte Ben und setzte sich neben den Mann auf die zweite Schaukel. „Ihr Mumienkostüm ist aber auch nicht schlecht, Sir.“

„Mumie?“, stieß der Mann empört aus. „Ich bin Osiris, der altägyptische Gott der... .“ Er sah in Bens misstrauisches Gesicht, die zweifelnden Augen. „Okay... es ist ’ne Mumie“, stöhnte der Mann und gab sich geschlagen. „Ich weiß, ist sicher nicht so ausgefallen wie Norman Bates, aber dafür aufwendiger.“

„Sie sind der erste, der das erkannt hat“, sagt Ben triumphierend und wollte dann wissen: „Haben Sie Ihr Kostüm selbst gemacht?“

„Aber selbstverständlich“, entgegnete der Mann. „Ich bin in diesen Bereichen einigermaßen begabt. In meiner Freizeit webe und knüpfe ich sogar Teppiche.“

„Tja, wenn Sie das Kostüm entworfen haben, können Sie wohl auch entscheiden, was es darstellt“, meinte Ben nun.

„Sehr richtig“, sagte Bens Gegenüber. „Ich mag dich, Benjamin. Du bist ein cleverer Bursche und wirst sicher einmal Großes leisten. Ich muss dann mal wieder. Die Pflicht ruft“ Er stand auf und dann hielt er Ben einen Schokoriegel hin.

„Danke“, sagte Ben, klang dabei aber überaus betrübt.

„Hey, Kopf hoch“, sagte der Mann und drückte Bens Kinn mit der linken Hand sanft nach oben. „Ich weiß, dass du dich einsam fühlst, doch manche Menschen sind nun einmal zum Leiden gemacht, deshalb gewinnen die Red Sox auch nie der Series. Doch wenn ein Mensch aus diesem Leid gestärkt hervor geht, kann er über sich selbst hinauswachsen.“



Richard klopfte an Bens Tür. Nach einer Weile wurde sie geöffnet.

„Neue Anweisungen von Jacob“, eröffnete Richard und gab Ben den Zettel, den er zuvor vor Juliet hatte verbergen wollen. Ben nahm den Zettel in die Hand und las ihn aufmerksam.

„Warum will Jacob, dass wir einen Zehnjährigen entführen, dessen Vater hier auf der Insel ist?“, wollte Ben wissen. „Wohl ist mir dabei nicht.“

„Ich bin nur der Bote, Ben“, erwiderte Richard.

„Ja, ich weiß“, sagte Ben. „Ich kümmere mich gleich morgen drum. Gute Nacht und... Happy Halloween!“

Teil 2 ist da!

Für den Fall, dass einer von ihnen den Arzt macht, teilen Jack, John und Kate das Dynamit untereinander auf. Zwei von ihnen sollen je drei Stangen transportieren. Es wird ausgelost. Doch Jack lässt sich sein Leben nun einmal weder vom Schicksal noch von Streichhölzern vorschreiben und steckt das Dynamit in seinen statt in Kates Rucksack. Auf dem Rückweg philosophieren John und Hurley über den Inhalt der Luke und sagen wir mal so: Hurley liegt eindeutig näher dran! Dann jedoch hören wir zunächst einen Vogel, der nach Hurley schreit. Als sich erneut ein Hurley-Vogel blicken und hören lässt, meint Hurley selbst, dass wer immer sich den Namen „Dunkles Territorium“ ausgedacht habe, ein Genie sei. Unmittelbar danach erblickt Jack eine zwischen den Bäumen umherfliegende, schwarze Nebelschwade (nein, es ist nicht der Erlkönig... oder etwa doch? Wer weiß das schon noch?). Jack und Kate sehen sich an und sie bestätigt, „es“ auch gesehen zu haben. Ein weiteres Mal schreit ein Vogel nach Hurley, plötzlich werden vor Jack, Kate, Hurley und Locke Bäume entwurzelt und in die Luft geschleudert. Jack, Kate und Hurley ergreifen die Flucht. Locke geht auf das noch immer nicht zu sehende Wesen zu – vermutlich in dem festen Glauben, es handle sich um das selbe Geschöpf, auf das er in „Wildschweinjagd“ getroffen ist. Begierig auf ein Wiedersehen geht John immer tiefer in den Wald hinein. Doch dann erblickt er das Wesen. Johns Gesichtsausdruck spricht hier Bände: das ist nicht, was er erwartet hat. Er sieht nun eindeutig etwas anderes, als das, was er dereinst im Dschungel traf. Diese Szene macht in meinen Augen mehr als eindeutig klar: es gibt zwei Monster, denn John ist zu erschrocken und verängstigt, um eine andere Erklärung gelten zu lassen. Es passt zu perfekt als, dass es anders sein könnte. Denn plötzlich hat Locke Angst, ergreift die Flucht. Das ist ein so klares Indiz dafür, dass dieses Monster, vor dem John nun flieht „Samuel“ ist und jenes, das er damals traf, Jacob, dass die einzige andere Erklärung, die logisch erscheinen würde, die wäre, dass es zumindest zwei Monster im Dienste der beiden gibt. Denn aus welchem Grund sollte sich EIN Monster John zweimal in zwei verschiedenen Formen zeigen. Das würde keinen Sinn ergeben.

Bevor John dann von Cerberus gepackt wird, hören wir erneut einen Hurley-Vogel schreien. Dann ertönt das mechanische Klackern einer Kette, die von einem Zahnrad aufgerollt wird und John wird wie dereinst Montand vom Monster in eine seiner Höhlen gezerrt (allerdings nicht unter den Tempel!). Jack packt John gerade noch rechtzeitig am Arm und obgleich John gerade noch panisch geflohen ist, verlangt er nun von Jack: „Let me go! I’ll be alright!“ („Lass mich gehen, mir passiert nichts!“). Auf Jacks Anordnung hin wirft Kate eine Stange Dynamit in den Schacht, die auch prompt von alleine explodiert, woraufhin Cerberus erst den Arzt und anschließend die Fliege macht. Später behauptet Locke gegenüber Jack, er sei getestet worden. Und plötzlich sind wir wieder mitten in dem Streitgespräch über Glaube und Wissenschaft. Aber wir sind auch kurz vor der Luke, an der Jack zu Kate sagt: „We’ve gonna have a Locke-problem“ („Wir werden ein Locke-Problem haben.“) Wow, Jack, noch ehe du Ben das erste Mal triffst, klingst du schon wie er. Und nicht nur das: auch dein Gesprächspartner trägt beizeiten Eyeliner.

Aber dann entdeckt Hurley die Zahlen und rastet total aus. John sprengt die Luke dennoch und für einen kurzen Moment könnte man denken, man hört von unten das altbekannte Piepsen des Countdowns, doch in Wahrheit handelt es sich ja nur um das etwas verfrühte Geräusch des Sonars auf dem Floß (und das, liebe Kinder, war Sarkasmus). Dieser kleine Filmtrick beim Schnitt war wohl volle Absicht. Aber wo wir nun eh’ auf dem Floß sind, können wir da auch bleiben:

Aber auch hier machen wir einen kleinen Sprung zurück. Ehe das Floß ablegt, geht Walt zu Shannon, um ihr Vincent als Seelentröster zu hinterlassen. Bei der Abreise muss Walt Vincent regelrecht an Land zurückscheuchen: „Go back, Vincent! Vincent, go back!“ („Schwimm zurück, Vincent! Vincent, schwimm zurück!“). Wir sind uns wohl alle einig darüber, dass hinter Vincent weit mehr steckt, als man bislang weiß. In Staffel 2 wird er noch aktiver ins Geschehen eingreifen und wir sollten uns dann wohl auch einmal ausführlich mit diesem verrückten Flohteppich beschäftigen.

Als das Floß schon längst auf hoher See ist, finden wir Sun am Meer sitzend. Sie blickt zunächst aufs Meer und dann auf ihren Ehering – kein ganz unbedeutendes Detail, bedenkt man, dass sie ihn in Kürze verlieren wird.

Auf dem Floß hält James sich derweil mit jener Flaschenpost, mit der Sun ihren Ehering verbuddeln wird, bei Laune. Als James in einem Nebensatz erwähnt, der einzige Brief, den er je geschrieben habe, sei für den Mann, den er töten werde, hat er arge Probleme, Walt einen Grund zu nennen, weshalb er den echten Sawyer töten wird. Obgleich James natürlich noch weiß, wieso er Sawyer töten will, zeigt seine Unsicherheit und Genervtheit doch eines deutlich: Diese Vendetta ist für ihn zu einer irrationalen Manie geworden. James hat sich selbst eine Pflicht auferlegt, die ihn gefangen halten wird, bis er sie erfüllt hat. Diese Aufgabe bestimmt sein Leben. Stellt sich nur die Frage, ob da nicht eine verdammt große Leere zurückbleibt, wenn er seine Lebensaufgabe, Sawyer zu töten, erfüllt hat.

Dass aus Feinden Freunde werden können, beweisen Michael und Jin derweil mit einer nie da gewesenen Hingabe. Wirklich zum Streit kommt es auf dem Floß erst, als das Sonar ein Fischerboot ortet. Das Boot kehrt um, nachdem die Leuchtmunition abgeschossen wurde. Falsche Hoffnung keimt auf und endlich mal haben wir einen Red Herring, der sich zumindest mal im Wasser aufhält. Weitere Rote Heringe finden sich in der dritten Inselstory, die mit Aarons Rückkehr endet, während auf dem Floß gerade Walt entführt wird – aber das ist ja nichts neues: Bei „Lost“ ziehen Gegensätze sich zumindest in dramaturgischer Hinsicht gerne an. Ein wahrhaft scheinheiliger Red Herring ist die Madonnenstatue in Charlies Rucksack – außen hui, innen pfui. Aber wie kam jetzt noch mal die Statue in Charlies Besitz? Zeit ein letztes mal auf der Insel zurückzuspringen, ehe wir uns den letzten richtigen, noch ausstehenden Rückblenden zuwenden (nein, die habe ich in keinster Weise vergessen).

Schon während des geplanten Umzugs zu den Höhlen fordert Charlie von Sayid eine Waffe. Als hätte er es geahnt. Denn als Rousseau zurückkehrt, helfen Claire alle Babybjörns dieser Welt nicht. Claire erinnert sich, denkt sie habe Danielle gekratzt, als diese sie entführen wollte. Verzweifelt und ausgesprochen durchgeknallt wie Danielle ist, tut sie nun Claire das an, was Ben 16 Jahre zuvor gezwungen war ihr anzutun. Aber da sind wir ja mal wieder beim Thema. Sayid sagt: „This isn’t about revenge!“ („Es geht nicht um Rache!“) Doch genau das tut es. In der Serie geht es ständig um Rache und gerade Sayid ist da alles andere als eine Ausnahme. Aber er durfte mal wieder den Moralapostel spielen. Charlie warnt er ja schon, er solle ihn nie wieder schlagen. Ja, was passiert denn dann, Sayid? Reist du dann auch noch in Charlies Vergangenheit, um ihn auch über den Haufen zu schießen, wenn er zu jung ist, sich zu wehren?

Claire will vor allem ihren Aaron zurück und möchte am liebsten mitgehen. Als man ihr davon abrät, sagt sie einen Satz, den ich in der Serie jetzt schon fast begonnen habe zu vermissen: „Don’t tell me what to do!“ („Sag mir nicht, was ich tun soll!“) Hach, schön... das ist wie „I’ve a bad feeling about this!“ („Ich hab da ein ganz mieses Gefühl!“) bei „Star Wars“. Es geht nicht ohne! Sayid und Charlie ziehen also alleine los und erreichen irgendwann auch die Beechcraft/ den Drug-Store, bei dem Charlie erst einmal seine Wochenendeinkäufe erledigt: „Einmal eine Statue der Mutter Gottes mit Heroin drin zum Mitnehmen, bitte!“

Kurze Zeit später tappt Charlie dann in eine von Danielles Fallen. Die Wunde an seinem Kopf spricht mal wieder eine überdeutliche Sprache: Knapp daneben ist auch vorbei. Aber jeder braucht halt ein Hobby – das Hobby des Sensenmannes heißt Charlie Hieronymus Pace. Sayids Methode die Wunde zu versorgen ist eigenwillig aber effektiv und hätte gut von Arzt kommen können, denn der hat es ja mit explosiven Dingen.

Als Sayid und Charlie Danielle dann am Ende einholen, attestiert Charlie ihr: „You’re pathetic!“ („Du bist erbärmlich!“) Haben wir da mal wieder einen Satz, den wir öfters zu hören bekommen? Ja, den haben wir. Wir müssen nicht einmal bis zu Jacobs Hütte schweifen, in der John Ben dies vorhält. Nein, wir werden schon im Staffelfinale fündig. Auch Charlies angeblicher Groupie/Co-Junkie Lily beschimpft Charlie mit eben diesen Worten, nachdem die zwei sich um den letzten Rest Heroin gekloppt haben. Vielmehr kann man über Charlies Flashback auch nicht sagen. Er taucht aber auch in Hurleys auf und motzt ihn im Fahrstuhl an. Folglich gehen wir nun also zu Hurleys Flashback über:

Alle Kräfte des Himmels und der Erde scheinen sich gegen Hurley verschworen zu haben oder vielleicht auch für ihn... ? Zumindest muss es auf Hurley so wirken, als habe Murphys Law ihn voll am Wickel, denn irgendeine Macht will wohl nicht, dass er diesen Flieger erwischt: Sein Wecker hat ’nen Kurzen , weshalb er verschläft; der Fahrstuhl ist voll; das Auto bleibt stehen (übrigens die Anzeige zeigt oben „42KM“ und zählt darunter nach unten: 15KPH ® 8 KPH ® 4 KPH; die Zahlen tauchen außerdem komplett als Rückennummern einer Sportmannschaft auf und in Bezug auf den Flug in der Flugnummer 815 und in Gate 23); er muss einen weiteren Sitz kaufen; ist am falschen Schalter und so weiter und so fort. In der Schlange vom Sicherheitsterminal steht übrigens auch Arzt, der später im Flieger Claire (deren Rückblende fiel der Schere zum Opfer) mit ihrem Koffer hilft. Wie Ben später bei 316, kommt also Hurley bei 815 gerade noch rechtzeitig.

Jemand anders war zwar überpünktlich, hatte aber dennoch Probleme an Bord zu kommen: Locke musste getragen werden. Auf der Insel braucht Locke keine Hilfe mehr. Dort öffnet er mit Jack gemeinsam die Luke und sie sehen hinab. Und genau hier, machen wir morgen weiter. Was aber nicht heißt, dass es sich nicht lohnen würde, gegen Abend noch einmal einen Blick ins Blog zu werfen ;-)

Freitag, 30. Oktober 2009

Ihr habt lange genug gewartet

Ich hab jetzt beschlossen das Ganze in zwei Teile zu splitten. Hier kommt also Part I:

Tag 32/33/34 – 24.10.2009 – 26.10.2009:

Zeit fürs erste Staffelfinale „Exodus“ – also den Aufbruch. Gemeinhin wird der lateinische Begriff „Exodus“ vor allem mit dem Zweiten Buch Mose in Verbindung gebracht, welches die Geschichte des angeblichen Autors selbst beinhaltet und somit vom legendären Auszug der Israeliten aus Ägypten berichtet. Ihm voran geht das Buch „Genesis“ (die Schöpfungsgeschichte), in dem auch Jakob, der Stammvater der Israeliten, eine bedeutende Rolle spielt. Die anderen drei Bücher Mose sind im Übrigen: Levitikus („Buch der Leviten“ – also der zwölf Söhne Jakobs), Numeri (lat. „Zahlen“) und Deuteronomium (gr. „zweite Gesetzgebung“). Man kann wohl davon ausgehen, dass der Begriff „Exodus“ anstelle von „Departure“/„Aufbruch“ nicht ohne Grund gewählt wurde.

So wird im 13. Kapitel, Vers 21 berichtet: „Tagsüber zog der Herr in einer Wolkensäule vor ihnen her, um ihnen den Weg zu zeigen, und nachts war er in einer Feuersäule bei ihnen, die ihren Weg erhellte.“ Eine Wolken- oder Rauchsäule führt Danielle zu den Anderen. Als der Ursprung der Rauchsäule des Nachts erreicht wird, stellt er sich als einsame Feuerstelle und Ablenkungsmanöver heraus. Ferner würde das Bild auch wieder zu der These passen, dass Jacob und sein Gegner als zwei Aspekte der Insel durch Rauch und Feuer repräsentiert werden. Die Rauchsäule ist ein Red Herring – man will uns suggerieren, dass es ein Signal der Anderen ist und sie sich an ihrem Fuße aufhalten. Doch am Ende finden Sayid und Charlie Rousseau vor, die sagt: „I heard them say they were coming for the child. The Others said they were coming for the boy.“ („Ich hörte sie sagen, sie kämen für das Kind. Die Anderen sagten, sie kämen für den Jungen.“) Da stecken so viele falsche Annahmen drin, wie in den meisten von Danielles „Wahrheiten“ – weder sind die Anderen für das Flüstern verantwortlich, noch war mit dem Jungen jemals Aaron gemeint, sondern Walt. Ganz abgesehen davon zeigt sich erneut Danielles völliger Realitätsverlust und ihre Irrationalität: Man kann Menschen nicht austauschen wie Waren. Ben hatte ihr gesagt, dass sie nie nach ihm suchen sollte. Man fragt sich, was passiert wäre, wenn er tatsächlich bei der Feuerstelle gewartet hätte.

Aber es gibt noch mehr Exodus-Motive: Vielleicht ist „Samuel“ ja auch so eine Art Goldenes Kalb. Er zeigt sich, während Jacob erwartet, dass man an ihn glaubt, ohne mit ihm zu sprechen, dass man seinem Boten (Richard) vertraut, so wie Gott nur mit Moses sprach. So kann „Samuel“ die Menschen verleiten, manipulieren, vom rechten Pfad abbringen. Ferner ist es auffällig, dass Claire ausgerechnet in dieser Mega-Folge den Namen „Aaron“ für ihren Sohn wählt, denn Aaron war schließlich der leibliche Bruder Mose. Aber auch die Frage nach Bestrafung und „gerechten Plagen“ wird in diesem Finale immer wieder aufgeworfen und könnte ein Verweis auf die zehn biblischen Plagen sein. Auf die Thematik „Strafe des Schicksals“ komm ich später noch mal zurück, zuvor sei noch die offenkundigste Analogie zum Buche „Exodus“ genannt:

In gewisser Weise handelt es sich bei der Flucht mit dem Floß tatsächlich um einen Aufbruch aus einem feindlichen Land bzw. aus einem Gebiet, über das andere herrschen. Zu dumm nur, dass Michael nicht einfach das Meer teilen konnte wie Moses, denn dann hätten die Häscher des Pharaos Men-pechti-Jacobs III. (frei übersetzt: „Beständig ist die Macht Jacobs“) alias Benjamin Linus wohl Probleme gehabt seinen Sohn zu entführen.

Und wo wir gerade bei unserm guten, alten Ben sind: Das ganze Staffelfinale ist wiedereinmal ein unglaublich guter Beleg dafür, dass bei „Lost“ das Kausalitätsprinzip gilt. Alles, was in diesen zwei Stunden (also für uns als Zuschauer) passiert, sind Folgen einer Entscheidung, die Ben 16 Jahre zuvor getroffen hat: Die Entscheidung sich Charles’ Anordnung zu widersetzen. Hätte Ben Danielle getötet anstatt ihr eine Heidenangst einzujagen, wäre sie niemals zu den Losties gekommen, ja sie hätte Sayid nicht einmal von den Anderen erzählen können. Alles, was die Losties über die Anderen wissen, stammt von Danielle und die ist nicht gerade eine objektive Quelle. Danielle sagt: „The Others – You have only three choices: run, hide, or die.“ („Die Anderen – ihr habt nur drei Alternativen: rennen, verstecken oder sterben.“) Natürlich denkt sie so über die Anderen, denn für sie sind sie die Bösen, die ihr Kind entführt haben. Weder kannte sie je Bens Beweggründe Alex mitzunehmen, noch weiß sie, dass Charles „Terrorherrschaft“ seit etwa zehn Jahren vorbei ist. Ben hat ihr damals gedroht: „If you try to follow me or if you ever come looking for me, I'll kill you. And if you want your child to live, every time you hear whispers, you run the other way.“ („Falls du versuchst mir zu folgen oder mich jemals aufsuchst, werde ich dich töten. Und wenn du willst, dass dein Kind lebt, lauf in die andere Richtung davon, wenn du nur ein Flüstern hörst.“) Ben jagte Rousseau eine Todesangst ein, damit er sie Charles’ Zugriff auf immer entziehen konnte. Deshalb gibt sie seine Äußerung inhaltlich genauso wieder: Rennen und verstecken ODER Sterben. Unser Bild der Anderen – genau wie das der Losties – wurde durch Rousseaus Äußerungen geprägt. Wie hätte der erste Kontakt zwischen Losties und Anderen ausgesehen, wenn Danielle nicht gewesen wäre? Wäre es so gelaufen wie bei den Tailies? Wäre denkbar, wobei die Anderen da überhaupt ungewöhnlich übereilt und brutal agiert haben. Die Aktionen gegen die Tailies tragen nicht gerade die Handschrift des gelassenen, planenden Manipulators Benjamin Linus. Bei Claires Entführung wird Ethan sogar von Tom zurecht gewiesen, weil er gegen Bens Anordnungen gehandelt hat.

Aber kehren wir noch mal zu Danielle zurück: Danielle warnt die Losties vor den Anderen, führt fünf von ihnen zur Black Rock und entführt Claires Baby. Man sieht wie sie ihr Opfer bereits sondiert, als sie das erste Mal ins Camp kommt. Von Danielle stammt auch die Batterie für das behelfsmäßige Sonar, das Sayid gebaut hat. Ohne dieses Sonar hätten die vier auf dem Floß das Boot der Anderen nie bemerkt und nie die Leuchtpistole abgefeuert, die die Anderen zu ihnen lockt. Hätte Ben Danielle getötet, wäre nichts von alledem passiert. Das führt uns zu der einen Frage: Sollte sie deswegen sterben? Kam der Befehl zumindest Danielle zu töten am Ende wirklich von Jacob und nicht von Charles? Denn um es mal ganz brutal auf den Punkt zu bringen: Die Frau macht nichts als Probleme. Wir wissen bis heute nicht welche ihrer Äußerungen wahr, gelogen oder Folge ihres Wahns und somit zwar für sie real, aber in Wahrheit dennoch falsch sind.

Die Rückblenden des Staffelfinales zeigen uns, was unsere Losties relativ kurz vor dem Abflug gemacht haben und über die wenigsten erfahren wir dabei etwas neues oder bekommen gar neue Aspekte ihrer Persönlichkeit zu Gesicht. Die Rückblenden mit Walt und Michael sind insofern ganz interessant, dass Walt Michael ganz öffentlich verleugnet und sich überhaupt ausgesprochen trotzig, provozierend, fast böswillig verhält. Michael erträgt es (das meinte Sawyer wohl mit „Patience of a Saint“/“Geduld eines Heiligen“). Walt legt es sehr gezielt darauf an, Michael wütend zu machen, zu nerven oder ihm zu zeigen, dass er ihn als Vater nicht anzuerkennen bereit ist („You are not my father!“/„Du bist nicht mein Vater!“). Später belauscht er das Gespräch zwischen Michael und dessen Mutter. Dieses Kind wird mir einfach immer suspekter, unheimlicher. Wenn der Michael so anguckt, läuft’s mir manchmal eiskalt den Rücken runter. Welcher Zehnjährige killt schon Vögel? Ich kann mir nicht helfen, aber ich spüre da so etwas wie eine böse Ader bei Walt und mein Gefühl in Bezug auf Charaktere hat mich bislang nur ausgesprochen selten im Stich gelassen. Eigentlich nur bei Juliet, der ich eine düstere Entwicklung prophezeit hätte – bin froh, mich geirrt zu haben. Selbstverständlich ist Michael in seiner Rückblende (ich schätze mal die erste soll Walts sein und die zweite Michaels) auch alles andere als ein Vorzeigevater. Er will Walt loswerden. Besonders aufgemerkt habe bei: „He's not supposed to be mine. He was never part of the plan.“ („Er war nie bestimmt Meiner zu sein. Er war nie Teil des Plans.“) Was meint er damit nun genau? Klingt fast wie: „Ich sollte ihn nur zeugen, von erziehen hat keiner was gesagt!“ Es passt so gar nicht zu Michaels sonstigem Verhalten in Bezug auf Walt, diesen ständigen Wunsch in seiner Nähe zu sein, dieses Pochen auf seine Ansprüche als Vater. Als Michael Walt in der Szene nach diesem Flashback, in dem übrigens John durchs Bild gerollt wird, erklärt, Walts Mutter hätte nicht gewollt, dass Michael ihn besucht, erwidert Walt: „She was wrong.“ („Da hatte sie Unrecht.“) Können die zwei sich nicht endlich mal entscheiden? Wollen sie jetzt Vater und Sohn sein oder nicht?

Jacks Rückblende soll wohl vor allem Ana-Lucia noch vor Staffel 2 einführen. Denn auch dieses Staffelfinale hält sich bereits an den Grundsatz, dem auch alle späteren folgen: Die zentralen Themen der nächsten Staffel müssen ebenso wie ein neues erzählerisches Mittel bereits enthalten sein. Folglich geht es in „Exodus“ um die Luke und die Entführung Walts durch die Anderen – die drei Hauptthemenkomplexe der zweiten Staffel: Schwan, die vermeintliche Bedrohung durch die Anderen, Walts Entführung. Die neuen Charaktere (Tailies, Andere) werden ebenfalls angedeutet und die Zentrierung mehrerer Charaktere in einer Folge ist bis dahin nur im Pilot gemacht worden und da auch nicht in diesem Umfang. Dieses Muster trifft auf alle fünf Staffelfinale zu. Über Ana-Lucia selbst erfährt man in dieser Szene lediglich, dass sie Flugangst hat. Rückblickend hat die Szene natürlich etwas von Ironie des Schicksals, denn Jacks toter Vater, von dem Jack und Ana sprechen, war wenige Stunden zuvor noch mit Ana-Lucia unterwegs und hat danach mit James einen getrunken. Der wiederum erzählt Jack nun endlich doch von dieser Begegnung und fügt hinzu: „Small World, huh?“ („Die Welt is klein, nicht wahr?“). In der Tat, Sawyer, das ist sie!

James’ eigene Rückblende ist vor allem in Verbindung mit der Inselhandlung kurz vor und kurz nach der Rückblende interessant. Calderwood (der australische Polizist) sagt zu James: „You're not even worth what it would cost us to incarcerate you. Which is why you're being deported. Your plane leaves this afternoon. And, James, you'll better never setting foot in Australia again.“ („Sie sind nicht einmal das Geld wert, das es uns kosten würde, sie zu inhaftieren. Deshalb werden Sie auch ausgeflogen. Ihr Flug geht heute Nachmittag. Und, James, Sie wären gut beraten, nie wieder einen Fuß nach Australien zu setzen.“) Sawyer wird also Nutzlosigkeit bestätigt, ihm wird attestiert, ein Parasit zu sein, nachdem er sich in einer Bar (Wo auch sonst?) mit einem ranghohen Politiker geprügelt hat. Dieses Bild von sich will er auf der Insel erst noch künstlich aufrecht erhalten, bis es ihm mit der Zeit unbehaglich wird. Ein Leben als Parasit ist anstrengender als man denkt. Beim Floßbau wird seine Hilfe daher auch nicht gewünscht, woraufhin er auf eigene Faust einen Mast bastelt. Später ist es auch Sawyer, der ohne nachzudenken ins Wasser springt, um das abgerissene Ruder zurückzuholen. Dabei entdeckt Michael in Sawyers Kleidung die Waffe, die Jack James gegeben hat. Michael sagt aber nichts, versteckt sie wieder im Pullover, ehe er ihn Sawyer gibt. Die Sache mit der Waffe macht aber bereits stutzig als Jack sie Sawyer gibt: Als hätte er geahnt was passiert, druckst er rum, als James fragt, wieso sie die Pistole mitnehmen sollen („Just in case.“/„Nur für den Fall.“). „Nur für den Fall“? Für welchen Fall? Für den Fall, dass die Anderen mit einem Fischerboot angetuckert kommen und Walt entführen wollen? Ja, für den Fall bräuchte man eine Knarre. Sawyer will sie auch benutzen. Was ist er nun wirklich: Ein Held oder jemand, der sterben will? Vermutlich ist er irgendwas dazwischen – ein Held, der sterben will. Denn eines wird im Staffelfinale überdeutlich: James ist von Natur aus sehr viel altruistischer und heroischer als er bereit wäre zuzugeben.

Daher verband ihn mit Kate auch etwas. Als Jack mit Locke, Danielle, Hurley und Arzt losziehen will, möchte unsere ewig rastlose Kate natürlich mitgehen. Ehe der Trupp aufbricht sieht sie sich überall am Strand um, von James fehlt jede Spur. Ebenso will auch Sawyer sich von Kate verabschieden als das Floß in See sticht, doch ist Kate zu diesem Zeitpunkt schon auf dem Weg zur Black Rock. Kate und Sawyer teilen vor allem das Gefühl, nicht dazu zu gehören. Während James einfach nur ausgewiesen wurde, hat man Kate ausgeliefert. Ihre Rückblende spielt sehr kurz vor dem Abflug: Mars provoziert Kate solange, bis die austickt und ihn attackiert.

Der Wunsch, sich nützlich zu machen, während alle einen für nutzlos halten, haben James und Kate aber mit einem weiteren Charakter gemein: Shannon. Die trifft in ihrer Rückblende bereits vor dem Flug erstmals auf Sayid (dessen eigene Rückblende wurde rausgeschnitten) und macht ihn aus dem puren Bedürfnis heraus, Boone ihre Macht zu demonstrieren, zu einem Terrorverdächtigen. Wobei ich mich frage, wieso Boone das Ganze gegenüber dem Flughafenpersonal nicht umgehend klar stellt, anstatt Shannon gewähren zu lassen.

Sun begründet auf dem Flughafen hingegen eine Tradition, die sie auf der Insel ein Weilchen am Leben erhalten wird: Sie belauscht Menschen. In diesem Falle sogar welche, die über sie reden. Das besitzt schon eine gehörige Portion Ironie. Dieses australische Ehepaar zerreist sich über Sun und Jin den Mund, in dem Glauben, dass beide nichts verstünden. Sun ihrerseits nutzt die vermeintliche Sprachbarriere, um die beiden zu belauschen. Jede(r) von uns hat sich doch schon einmal in einer Situation befunden, in der andere sich in einer ihm/ihr unbekannten Sprache in seiner/ihrer Gegenwart unterhalten haben. Wie oft denkt man dann: Die reden bestimmt über mich, die machen sich über mich lustig oder lästern. Hier trifft das sogar zu und Sun dreht den Spieß um. Vielleicht hat sie aus diesem Grund ja des Öfteren Gespräche auf der Insel heimlich belauscht – so konnte sie viel besser herausfinden, was andere wirklich denken. Besonders nett ist wohl beides nicht. Man sollte Sprachbarrieren nicht ausnutzen. Auch nicht so wie es Jin dann auf der Toilette widerfährt, als ihn einer von Paiks Söldnern unter Druck setzen will: „You are not free! You never have been, and you never will be.“ („Sie sind nicht frei! Sie waren es nie und sie werden es nie sein.“) Was bedeutet eigentlich „frei“? Auf der Insel sind all diese Menschen vermutlich so frei wie in ihrem ganzen sonstigen Leben nicht mehr, denn außerhalb der verkrampften Gesellschaft, die von Gesetzen, Regeln, antrainiertem Verhalten, Erwartungshaltungen, vielen hohlen Phrasen, Verantwortung und Verpflichtungen beherrscht wird, zeigt der Mensch wer er wirklich ist. Auf der Insel nimmt man seine Maske ab. Einige brauchen dafür ihre Zeit – so etwa Sawyer oder Sun. Andere hingegen kümmern sich schon lange nicht mehr darum, was andere von ihnen halten und sind dennoch gezwungen eine Maske zu tragen, so wie Ben. Die meisten jedoch zeigen sich so wie sie sind, stehen zu ihren Schwächen und Fehlern, denn sie sind alle zu sehr aufeinander angewiesen, um sich eine Maske leisten zu können. Nur wenige, wie eben Ben oder Sayid, können es sich nicht leisten, keine Maske zu tragen. Für Ben ist es überlebenswichtig, sich kälter, böser, verschlagener zu geben als er wirklich ist – er darf keine Schwäche zeigen. Sayid wiederum muss sich in einer Gesellschaft wie der der Losties friedlicher, altruistischer geben als er ist bzw. seine dunkle Seite unterdrücken. Dass Sayid auch mitfühlend, hilfsbereit und selbstlos sein kann zeigt sich gerade im Staffelfinale wieder überdeutlich. Er baut das Equipment für das Floß, organisiert den Umzug zu den Höhlen und versucht Claire, Danielle, Charlie und Aaron heil aus dem Konflikt untereinander herauszubekommen.

Jin ist auf der Insel jedoch alles andere als frei, denn seine Unfähigkeit mit den anderen kommunizieren zu können, zwängt ihn zwangsläufig in eine Außenseiterrolle. Um seine Sprachbarriere abzubauen, macht Sun daher das Wörterbuch für ihn: ein Versöhnungsgeschenk, ein Zeichen der Wertschätzung, eine Bitte um Vergebung. Die Szene, in der Jin das Wörterbuch erhält, ist nicht ohne Grund direkt hinter Suns Flashback gegliedert. Der Kreis schließt sich. Doch hat Sun Jin wiedereinmal missverstanden und das obwohl beide die gleiche Sprache sprechen. Jin geht nicht, um von Sun wegzukommen, sondern um sie zu retten. Sie beide bedauern das Geschehene, doch Jin glaubt darüber hinaus, dass er für seine Fehler bestraft wird.

Diese fixe Idee bringt Sun gegenüber Shannon und Claire zur Sprache:

SUN: „Do you think all this – all we've been through – do you think we're being punished?“ („Glaubst du, dass all das, alles, was wir durchgemacht haben... Glaubst du, dass wir bestraft werden?“)

SHANNON: „Punished? For what?“ („Bestraft? Wofür?“)

SUN: „Things we did before – the secrets we kept, the lies we told.“ („Für die Dinge, die wir getan haben – die Geheimnisse, die wir hatten, die Lügen, die wir verbreitet haben.“)

SHANNON: „Who do you think is punishing us?“ („Und wer glaubst du, bestraft uns?“)

SUN: „Fate.“ („Das Schicksal.“)

CLAIRE: „No one's punishing us. There's no such thing as fate.“ („Niemand bestraft uns. So etwas wie das Schicksal gibt es nicht.“)

Hab ich mich da verhört? Ausgerechnet Claire, die an Astrologie glaubt, zu einem Wahrsager ging und für die das Schicksal die einzige spirituelle Größe ist, deren Existenz sie sonst nie anzweifeln würde, streitet ebendiese kategorisch ab? Aber eigentlich ja verständlich. Durch ihre eigene und nun auch Aarons Entführung hat sie von denen, die noch leben, wohl am meisten durchgemacht auf der Insel und das obwohl sie am wenigsten gesündigt hat. Shannon repräsentiert hier die Zweiflerin und Sun eine andere Warte des Fatalisten. Doch wie Jacob auch schon Hurley zu bedenken gab: Wie kommen sie darauf, dass sie bestraft werden, dass sie verflucht sind? Was wäre, wenn sie gesegnet sind? Sollte das Schicksal für ihre Situation verantwortlich sein, dann hat es ihnen eigentlich ein Geschenk gemacht, das sie nur noch nicht in er Lage sind, zu würdigen. Jacob hat sie nicht auf die Insel gebracht, um ihnen zu schaden, sie zu bestrafen. Denn trotz seines manipulativen Charakters ist Jacob ein Freund der Menschen. Man könnte sagen: er zwingt sie zu ihrem Glück. Jacob scheint in gewisser weise das Schicksal oder zumindest das „good Luck“ zu repräsentieren – womit der Man in Black das „bad Luck“ wäre. Diese These würde durch den Dialog zwischen Jack und John unterstützt, in dem John sagt, dass die Insel selbst, das Schicksal, sie auf die Insel brachte. Wir wissen: es war Jacob, der sie auf die Insel brachte und somit hätte John ja recht, wenn er behauptet, das Schicksal habe sie alle auf der Insel zusammengeführt. Jedoch irrt Locke sich bei dem höheren Zweck, denn der dient wohl vor allem Jacob selbst, seiner Beweisführung. Locke sieht alles als eine zwangsläufige Kette von Ereignissen und bestätigt dabei wieder seine materialistische Grundhaltung: „...was a part of a chain of events that led us here, that led us down a path, that led you and me to this day, to right now.“ („...war Teil einer Kette von Ereignissen, die uns hierher geführt hat, die uns über diesen Pfad geführt hat, dich und mich, an diesem Tag, genau jetzt.“) Locke hat sich in einem Punkt geirrt: An der Luke endet es nicht – zumindest nicht für ihn. Es endet unter der Statue. Es endet mit Jacobs Tod. Darauf läuft alles hinaus: Ben steht mit „Samuel“ vor Jacob und sie töten ihn. Das ist ein weiterer Hinweis darauf, dass Jacob seinen eigenen Tod geplant hat, alles vorbereitet hat, um „Samuel“ in eine Falle zu LOCKEn, von der „Samuel“ selbst annahm, es sei eine Falle, die er für Jacob ausgelegt hatte.

Jack erwidert Locke trotzig: „I don't believe in destiny.“ („Ich glaube nicht an das Schicksal.“) Woraufhin ihm Locke unbeeindruckt versichert: „Yes, you do. You just don't know it yet.“ („Doch, das tust du. Du weißt es nur noch nicht.“) Und damit hat John ja absolut recht: aus dem Mann der Wissenschaft wird ein Mann des Glaubens werden. oder sollte man sagen „geworden sein“? Denn ein Mann des Glaubens wird Jack ja 27 Jahre in der Vergangenheit. Jacks Pfad endet tatsächlich an der Luke, wenn auch in einer anderen Zeit.

Doch bevor wir zur Luke kommen, betrachten wir dann doch mal den Pfad der beiden von der Luke zur Luke zurück innerhalb dieses Staffelfinales. Als Jack, John, Sayid und Hurley Danielle die Luke zeigen und darüber diskutieren diese aufzusprengen, behauptet Danielle steif und fest, nicht zu wissen, um was es sich handelt. Sie beteuert, so etwas auf der Insel nie gesehen zu haben. Jetzt mal Butter bei die Fische: Die Überlebenden von Flug 815 sind keine 108 Tage auf der Insel und finden alleine vier Dharma-Stationen (Pfeil, Schwan, Perle, Flamme) und Danielle will in 16 Jahren, in denen sie einen Funkturm, die Black Rock und den Tempel gefunden hat, keine der unzähligen Dharmastationen und anderen Gebäude der Initiative gesehen haben. Die waren sogar noch vier Jahre zeitgleich mit Danielle auf der Insel. Was hat die Frau 16 Jahre lang gemacht außer Fallen zu bauen und einen Bettkasten in ein Folterinstrument umzurüsten?

Nach seiner überaus wohlklingenden und mindestens ebenso nichtssagenden Rede (er hätte in die Politik gehen sollen^^) wird Jack von Arzt angesprochen, der sie begleiten will, weil er sich mit Dynamit besser auskennt als der Rest. So ’nen Physiklehrer hatte ich auch. Der wollte uns mal einen Lichtbogen vorführen und holte zwei mit Porzellan isolierte Konduktoren raus und stellte sie auf den Tisch. „Da kann nichts passieren“, sagt er, tickt an den Isolationsmantel und... ihr könnt es euch sicher denken... Bbbbbsssssssssssssssssss Ihm ist nichts passiert, außer dass seine buschigen Haare in und um die Ohren ein wenig zu Berge standen. Was ich mich aber in Bezug auf das Dynamit frage: Wenn selbst Arzt sich damit in die Luft jagt, wie hat es dann Danielle geschafft so viel von dem Zeug aus der Black Rock zu bergen und in ihre Fallen einzubauen, ohne den Arzt zu machen, also sich selbst in die Luft zu jagen?

Aber da wo Arzt sich in die Luft jagt, sind wir ja noch laaaaaaange nicht. Sechs brechen also auf (vier werden zurückkehren), um das Dynamit zu holen. Unterwegs bemerkt Locke die Kratzspuren von Claire an Danielles Arm. Sie behauptet, es sei ein Busch gewesen, woraufhin Locke entgegnet: „Mean bush“ Also ich kenn nur einen bösen Bush und der wohnt in Texas. Und der kratzt auch weniger, sondern sprengt lieber... Bemerkenswert an dieser Stelle ist aber, dass Locke von Danielle über ihre Wunde angelogen wird, kurz nachdem Locke seinerseits Sayid über seine Wunde „anlog“. Ich weiß; Jetzt mag man wieder darüber streiten, ob seine Narbe nicht tatsächlich eine „Kriegswunde“ ist, aber der ironische Symbolcharakter bleibt davon wohl eher unberührt.

Kurz bevor der Trupp das Dunkle Territorium erreicht (bzw. auf dem Rückweg halt kurz nachdem er es verlässt), passiert er einen Pfad, der parallel zum Fluss verläuft. Beide Male (also auf dem Hin- und auf dem Rückweg) wird die Gruppe hier von einer Anhöhe (schräg oben) durch die Bäume hindurch gefilmt, so als würde sie jemand von dort oben beobachten. Das alleine wäre nicht sonderlich spektakulär und vermutlich wäre es mir nicht einmal aufgefallen, wenn Jack nicht wäre. Denn kurz bevor die Kamera in die Vogelperspektive auf der Anhöhe wechselt, sieht man die Gruppe von vorne. Alle haben den Blick auf den Weg gerichtet – bis auf einen: Jack sieht nämlich zielsicher nach schräg oben zu der Anhöhe, fixiert sie mit den Augen regelrecht. Was hat er da gesehen? Denn irgendetwas muss er gesehen haben, so wie er da hinstiert. Wäre schon das zweite Indiz für die Zeitschleifenhypothese in dieser Folge und es war keineswegs das letzte.

Ein an einen Baum gebundener Stofffetzen (kommt euch das auch so bekannt vor? – „Rotes Hemd!“) markiert die Grenze zum „Le Territoire Fonce“. Mich erinnert das immer an die Verbotene Zone in „Planet der Affen“ – der angebliche Ursprung allen Übels, aber auch der Ort, wo die Antworten liegen. Überhaupt gibt es zahlreiche Parallelen zwischen „Planet der Affen“ und „Lost“ – nicht zu letzt wegen der ewigen Zeitschleife, der selbsterfüllenden Prophezeiung. Laut Danielle begann alles im Dunklen Territorium: „This is where it all began – where my team got infected, where Montand lost his arm.“ („Das ist der Ort, an dem alles begann – wo mein Team infiziert wurde, wo Montand seinen Arm verlor.“) Tatsache ist: Das Monster ist der Urheber dieser Dinge und da das Monster den Tempel „bewohnt“, lebt es zwangsläufig im Dunklen Territorium, an dem außer eben diesem Umstand nichts sonderlich dunkel oder bedrohlich wäre. Locke guckt zumindest, als sie das Dunkle Territorium erreichen, als freue er sich schon auf ein Kaffeekränzchen mit Smokey. Arzt hingegen ergreift die Flucht und rät Jack bezüglich des Dynamits: „Just be very careful with it!“ („Seid einfach vorsichtig damit!“)

Als wir Arzt wiedersehen flieht er schon wieder, diesmal allerdings in die andere Richtung. Als sich das Monster nähert, rennen alle außer Locke und Hurley weg. Das Monster zieht weiter – dieses mal. Aber wieso packt es sich Locke nicht bereits hier, sondern erst auf dem Rückweg? Oder war es ein anderes Monster?

Danielle nennt das Monster hier erstmals „Security System“/„Sicherheitssystem“ und behauptet es bewache die Insel. Eigentlich verwunderlich, dass Danielle das so sieht, wenn man bedenkt, dass sie das Monster vor allem als Tempelwächter kennen lernte. Wäre Smokey aber tatsächlich „Samuel“ würde es passen. Dann wäre das Monster wohl wirklich der Hüter der Insel, der ewige Wächter, ein Sicherheitssystem.

Als sie die Black Rock dann endlich erreichen, lässt einen folgender Dialog, doch immer wieder schmunzeln:

HURLEY: „How exactly does something like this happen?“ („Wie genau kann so etwas überhaupt passieren?“)

DANIELLE: „Are you on the same Island as I am?“ („Bist du auf der selben Insel wie ich?“)

HURLEY: „I guess that explains it.“ („Ich schätze, das erklärt es.“)

Als Danielle anschließend gehen will, um Claires Kind zu entführen, ehe Jack, John und Kate wieder im Camp sind (auch wenn sie das natürlich nicht sagt), versucht Jack sie mit aller Macht aufzuhalten. Als sie dennoch geht, stößt Jack ein kurzes „Dammit!“ („Verdammt!“) aus. Aber warum? Wieso war es ihm so wichtig, dass Danielle bleibt? Auch hier könnte die Antwort lauten: Er wusste, was passieren würde, wenn Danielle vor ihnen zurück beim Camp wäre.

John, Jack und Kate erkunden nun also die Black Rock. Als Locke feststellt, dass es sich um ein ehemaliges Sklavenschiff handelt, drängt sich für mich die Frage auf: Wie können Sklavenhändler, der Abschaum der Menschheit, in Jacobs Schema passen? Oder waren es nicht die Händler, sondern die Sklaven selbst, die er auf die Insel holen wollte? Aber wer liegt dann in Ketten: die Händler oder die Sklaven? Gab es vielleicht eine Revolte? Was um alles in der Welt ist nur mit diesem Schiff passiert?

In der nächsten Szene wird dann vor allem klar, dass vor Dr. Leslie Arzt jeder militante Selbstmordattentäter vor Neid erblassen würde. In Folge von Arzts spontaner Selbstsprengung müssen Jack und John die Dynamitstangen aus der Kiste holen. John vergleicht diese lebensgefährliche Aufgabe mit dem Spiel Dr. Bibber. Ein passender Vergleich, der mal wieder zu einer Frage führt: Warum nimmt nicht Jack die Stangen aus der Kiste? Jack ist Neurochirurg und hat somit mit Sicherheit die ruhigsten Hände der gesamten Insel. Es ist schließlich sein Beruf, auch nach zehn Stunden im OP noch ruhige Hände zu haben. Aber auch Jack selbst drängt sich offenbar eine Frage auf: „You like to play games, John?“ („Spielst du gerne Spiele, John?“). Na, und wie John Spiele liebt. Diese Äußerung bedarf wohl keiner eingehenden Erläuterung. Ich sage nur: Jacob vs. „Samuel“.


Den sehr viel kürzeren zweiten Teil schiebe ich morgen Vormittag hinterher.

Montag, 26. Oktober 2009

Okay, check this out. This is track 2. It's called...Sorry. It's called "Monster Eats the Pilot".

Tag 32 – 23.10.2009:

Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich habe schon aus der ersten Szene eines gelernt: Evangeline Lilly sieht mit blonden Haaren einfach dämlich aus, auch dann wenn sie sich Joan Hart nennt und auf Marion Crane macht. Okay, jetzt wissen die meisten unter 42jährigen nicht, wer Marion Crane ist. 1960 gab es diesen schönen Film „Psycho“ der für mich, bis „Lost“ kam, noch immer der Inbegriff von Spannung war. Die komplette Eröffnungssequenz ist eine Hommage an diesen Klassiker. Gerade die Musik gibt dem Ganzen eine gewisse Hitchcock-Note und, um das noch mal zu unterstreichen, heißt dieses Musikstück auf dem Soundtrack auch „Kate’s Motel“ – in Anlehnung an Bates’ Motel in „Psycho“. Kate bekommt im Motel dann diesen ominösen Brief ausgehändigt, von dem wir bis heute nicht wissen, wer ihn geschrieben hat und es gibt da wohl nur drei Möglichkeiten: Cassidy, Jacob (also Anonym) oder ein uns unbekannter Charakter. Denn Diane wollte Kate nicht sehen, als sie im Krankenhaus war und Tom war von Kates Kommen zu überrascht, um davon zu wissen, dass Kate über die Erkrankung ihrer Mutter in Kenntnis gesetzt wurde.

Mit Diane haben wir also mal wieder jemanden mit Krebs. Falls ihr die Liste nicht mehr parat habt: Benjamin Linus (Tumor an der Wirbelsäule, operiert), Rose Nadler (nicht näher benannt, aber eigentlich als unheilbar angesehen, bis sie auf die Insel kommt), James’ Onkel (Gehirntumor, ist daran gestorben), Rachel Carlson (vermutlich Eierstock- oder Gebärmutterhalskrebs, angeblich von Jacob selbst geheilt) und jetzt halt Diane Janssen.

Aber – ihr habt es teilweise wohl schon gelesen – mich hat eine ganz andere Szene in dieser Folge begeistert: Tom und Kate graben die Zeitkapsel aus. Jetzt wäre natürlich schon das Projekt an und für sich einer Analyse wert und die kommt auch noch, aber mich fesselte vor allem die Kapsel selbst. Einem inneren Impuls folgend hielt ich die Szene an, als man die Lunchbox, die den beiden als Zeitkapsel gedient hatte, gut sehen konnte. Danach lief ich zum PC und legte die auf DVD kopierte Aufnahme von „Der Vorfall“ ein. Und siehe da: meine Spürnase mag zwar ständig zusitzen und nasensprayabhängig sein, aber in Sachen „Lost“ versagt sie nur selten. Es ist eindeutig die selbe Kiste, die Jacob Kate „geschenkt“ hat. Ich war bestimmt nicht der einzige, der sich gefragt hat: Wieso taucht er in Kates Leben ausgerechnet da auf? Bei allen anderen waren es Schlüsselmomente des Lebens. Jacks erste eigene OP: er hat seine Angst besiegt mit einem Trick von seinem Vater, den er später Kate erzählen wird. Jacob gibt ihm einen Rat und einen Schokoriegel. James schrieb jenen Brief, der ihn auf die Insel brachte, mit Jacobs Stift. Jin und Sun werden von Jacob auf ihrer Hochzeit besucht, Ilana im Krankenhaus, Hurley, ehe er auf die Insel zurückkehrt. Sayid trifft auf Jacob im schlimmsten Moment seines Lebens. Aber Kate? Eine gestohlene Lunchbox? War dieser Moment wichtig, weil Kate hier das erste mal das Gesetz brach und mit einem blauen Auge davon kam? Vielleicht auch das. Aber die Box selber ist wohl viel wichtiger. Wie bei Jack, James und Hurley wechselt hier ein Gegenstand den Besitzer, ohne dass er Jacob wirklich lange gehört hätte. Diese Lunchbox festigt die Freundschaft zwischen Tom und Kate: sie bauen die Zeitkapsel und graben sie Jahre später wieder aus. Was ist in der Zeitkapsel? Ein Baseball, ein Baseballcap, viel anderer Kleinkram und... das Flugzeug, Toms Flugzeug, „the one thing in the whole world that Kate does care about“ („...das einzige auf der ganzen Welt, das Kate etwas bedeutet“). Dieses kleine Flugzeug zieht sich wie ein roter Faden durch die Folge. Natürlich ist es ein Flugzeug. Die Autoren hätten auch ein Auto nehmen können, doch die stürzen eher selten auf Inseln ab und können deshalb nicht so gut in den Sand gelegt werden, wenn man mehrdeutige und obendrein melodramatische Einstellungen drehen will. Aber überhaupt eine Zeitkapsel zu basteln, hat schon etwas symbolträchtiges. Eigentlich sind solche Kapseln nicht dazu gedacht, dass man sie selbst wieder ausgräbt, vielmehr sollen sie ein Zeugnis der eigenen Existenz für spätere Generationen sein – „Wir sind Kate und Tom und haben einmal hier gelebt!“. Aber Kate und Tom graben sie selbst wieder aus, blicken auf ihre Vergangenheit zurück und stellen fest: „Funny how things turn out, huh?“ („Komisch wie sich alles entwickelt hat, hä?“). Irgendwie ist aber doch vieles in „Lost“ wie diese Zeitkapsel: ein Zeugnis der Vergangenheit, auf das man hinab blickt und denkt: „Kaum zu glauben, dass alles mal so angefangen hat.“

Im Wagen küsst Kate Tom und entschuldigt sich dafür – wie später auch bei Jack, nachdem sie ihn im Dschungel geküsst hat. Tom hilft Kate ihre Mutter zu sehen, doch das alte Hexenweib ruft die Cops, als sie Kate erkennt. Was zur Hölle ist das für eine Mutter, die ihre eigene Tochter dafür, dass sie ihr helfen wollte, ans Messern liefern will, wenn sie sich um sie sorgt? Kate hat einen Fehler gemacht, einen grausamen Fehler. Doch eigentlich sollte ihre Mutter doch die erste sein, die ihr das verzeiht.

Tom macht ebenfalls einen Fehler, einen tödlichen obendrein: er steigt zu Kate ins Auto, als die fliehen will. Ein nervöser, übereifriger Polizist genügt und Tom ist tot. Ehe sie flieht, blickt Kate auf den Rücksitz. Dort liegen die Kassette, der Baseball und das Flugzeug aus der Zeitkapsel. Warum greift sie nicht kurz nach hinten und nimmt das Flugzeug mit? Wieso riskiert sie später so viel dafür? Hier hätte es sie vier Sekunden gekostet, sich einmal lang zu machen und such das Ding zu krallen.

Auch auf der Insel wird darüber nachgedacht, so etwas wie eine Zeitkapsel zu öffnen: Jack, Sayid und John brüten über der Luke. Sayid nimmt von vorneherein das schlimmste an – vermutlich Berufskrankheit. Ohne es zu wissen blicken auch diese drei in gewisser weise auf ihre Vergangenheit, eine Zeitkapsel, die zumindest zwei von ihnen selbst vor dreißig Jahren vergraben haben – zumindest, wenn man davon ausgeht, dass die Explosion den Vorfall und keinen Reset auslöste. Wie eigentlich während der gesamten Folge wird hier schon ein erster kleiner Ausblick auf den Handlungsverlauf des großen Staffelfinales gegeben.

Am Strand wird Kate durch Charlie bewusst gemacht, dass sie auf das Floß muss, wenn sie irgendwie dem Gefängnis entfliehen will. Ich wollte erst schreiben „wenn sie der Gerechtigkeit entfliehen will“, aber wäre das gerecht, was ihr dort widerfahren würde? „That is why the Red Sox never win the series“ – das Leben ist nicht gerecht oder fair. Als sie später wirklich zurückkehrt, kommt sie mehr als gut davon. Dank, dem amerikanischen Rechtssystem und dem Absturz. Dabei hätten ihre einstigen Beweggründe viel eher mildernde Umstände erwirken sollen als ihr späteres Schicksal, obgleich sie objektiv betrachtet dadurch schon genug gestraft war. Für jemanden, der nie lange an einem Ort verweilen kann, für eine ständig getriebene, rastlose Person wie Kate, muss das Gefängnis die größte denkbare Horrorvorstellung sein. Da ist es keine große Hilfe, dass Arzt ordentlich Zeitdruck macht. Sei es nun – wie er in „Tropical Depression“ behauptet – eine bloße Erfindung oder nicht, die Sache mit dem Monsun sollten wir uns noch mal anschauen: Die Mobisode „Tropical Depression“ diente vor allem als Erklärung dafür, dass der Monsun ausblieb, obwohl Arzt ihn prognostizierte. Dabei wäre nach Staffel 5 eine andere Erklärung soviel naheliegender und eleganter gewesen: Laut Eloise Hawking ist die Insel immer in Bewegung. Vermutlich ist die Antarktis schon gar nicht mehr das einzige Festland südlich der Insel. Nachdem Desmond die Insel verlassen hat, bewegt sich die Insel in weniger als drei Wochen so weit nach Westen, dass er wieder auf ihr strandet. Wer kann da schon sagen, ob die Insel überhaupt noch im Südpazifik ist? Sie könnte ebenso gut gerade im Nordatlantik sein – keiner weiß das, weil sie nun einmal nicht statisch ist und ihre Position scheinbar willkürlich ändert.

Kate will also um jeden Preis Sawyers Platz auf dem Floß und beginnt ihn gegen Michael auszuspielen. Sie hätte wissen müssen, dass sie sich da mit dem Falschen anlegt. James Ford ist eindeutig eine Nummer zu groß für Kate Austen – zumindest, wenn sie versucht ihn auszustechen, ihn durch Betrug und Manipulation zu schlagen. Außer Ben hat das noch keiner geschafft und es wird vermutlich auch nie ein anderer schaffen. Kate droht Sawyer und es ist diese Drohung, die ihr am Ende selbst schadet – alles eine Frage von Ursache und Wirkung. Oft sind es so unbedachte Kleinigkeiten, die große Wellen schlagen. Ein Satz, eine kleine Schutzbehauptung oder Notlüge kann alles verändern. Das haben wir bei „Lost“ oft genug erlebt.

Es ist Walts Griff zur falschen Wasserflasche, der Michael krank werden lässt. Walt sucht Locke auf, will, dass Locke weiß, dass er Michael nicht vergiftet hat. Als Locke Walt berührt, erschrickt dieser: „Don't open it, Mr. Locke! Don't open that thing!“ („Öffnen Sie es nicht, Mr. Locke! Öffnen Sie nicht dieses Ding!“). Was hat Walt gesehen, das ihn so erschreckte? Meinte er überhaupt die Luke? Man geht natürlich davon aus, dass Walt die Luke meint und am Ende der Episode die Insel aus diesem Grund unbedingt verlassen will (Michael: „Hey, it's okay, man. We can stay here, you and me. We don't have to go.“ – Walt: „Yes, we do.“; Michael „Hey, ist okay, Mann. Wir können hier bleiben, du und ich. Wir müssen nicht gehen.“ – Walt: „Doch, das müssen wir.“). Doch nichts, was Locke in der Station gefunden hätte, würde diese Reaktion wirklich rechtfertigen. Es gibt so viel anderes, das Walt hätte meinen können: die Tür zur Hütte, die Luke zur Perle und eine Menge anderer Türen und Luken oder gar eine Kiste, einen Koffer oder einen Tresor. Vermutlich meint er die Luke zum Schwan, aber wir sollten bei eher prophetischen Äußerungen, die obendrein derart vage sind, stets ins Betracht ziehen, dass etwas völlig anderes gemeint ist als das Offensichtliche, unter Umständen sogar etwas, von dem wir noch gar nichts wissen. Später sagt Walt, als er Shannon im Dschungel erscheint, rückwärts: „Don’t push the button“ („Nicht die taste drücken“). Es würde also passen, doch so unheilvoll Station und Taste wirken, so schützen sie doch in Wahrheit eher vor noch viel größerem Schaden als allem, was sonst in der Serie passiert wäre.

Walt ist auch der einzige, der am Ende dieser Episode sein Schweigen bricht und seinem Vater beichtet, das erste Floß angezündet zu haben. Kate hingegen gesteht zwar, was eh’ nicht mehr zu leugnen war, behält aber für sich, dass sie weiß, wer Michael wirklich vergiftet hat. Aber Kate ist an dieser Bloßstellung durch James selbst alles andere als unschuldig. Nicht nur, dass sie James herausgefordert hat, nein, Kate selbst hat Sun überhaupt erst auf die Idee gebracht, das Wasser zu vergiften. Sun hätte Kate durch eine eigene Beichte helfen können und tut es nicht. Jack wusste ebenfalls, was Sun getan hatte, aber nicht was Kate damit zu tun hatte – auch Jack schweigt. Da weiß man schon nicht mehr, wer hier eigentlich am verwerflichsten handelt. Für meine Begriffe eigentlich Sun, die Kates abgedrehten Rat annimmt und das Wasser vergiftet. Ziemlich feige Methode Jin am Gehen zu hindern und obendrein keine sonderlich sichere, wie sich zeigt. Sun nimmt also nicht nur in Kauf ihrem Ehemann zu schaden, anstatt offen mit ihm zu reden, sondern auch, dass unbeteiligte Dritte zu Schaden kommen. Man stelle sich nur vor, Walt hätte aus der Flasche getrunken – für einen erwachsenen Mann mag die Dosis nicht tödlich gewesen sein, aber für einen zehn Jahre alten Jungen? Wir wissen ja nicht, was Kate genau vorgeschlagen hat, denn eine so feige Handlung trägt sehr viel mehr Suns Handschrift. Natürlich hat Kate nicht uneigennützig gehandelt, denn wäre Jin wirklich zurückgeblieben, hätte Kate seinen Platz auf dem Floß bekommen. Warum hätte sie Sun also raten sollen, mit ihm zu reden, so wie Jack es tut. Auf diesem Wege hätte Kate zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen können: Sun und sich selbst helfen.

Ganz interessant ist in dem Zusammenhang auch die Reihenfolge wie die Hauptakteure dieser Folge von der Vergiftung erfahren: Walt, der Michael die Flasche gab, rennt in Richtung Höhlen, um Jack zu finden, und stößt dabei auf Kate und Sun im Kräutergarten. Kate schickt Sun und Walt zu Michael zurück und geht selbst zu den Höhlen, um Jack zu holen. Schaden, den man anderen zufügen will, erweist sich in dieser Serie immer öfter als Bumerang – es kehrt auf die eine oder andere Weise zu ihnen zurück. Und wer andern eine Grube gräbt... hat ein Grubengrabgerät oder heißt Ana-Lucia. Oder so ähnlich... .

Nur eine Frage bleibt am Ende unbeantwortet im Raum stehen: „Why is it so important for you to be on that raft?“ „Warum ist es für dich so wichtig, auf diesem Floß zu sein?“) ich weiß: Sawyer beantwortet die Frage. Doch kann das wirklich alles sein? Es gibt keinen Grund zu bleiben. Sind das Erklärungen, mit denen man sich zufrieden geben sollte? „Eye, ‚Samuel’, warum willst du Jacob umbringen?“ – „Warum nicht?“ ODER „Wieso hast du noch mal die Dharma auslöschen lassen, Charles?“ – „Ich hatte Langeweile und wir hatten keine Fernseher.“

Sawyer muss einen anderen Grund haben, die Insel verlassen zu wollen, denn genauso wenig wie es etwas gibt, das ihn dort hält, gibt es etwas, das ihn anderswo erwarten würde.