Across the Sea:
Noch ehe ich die Episode gesehen hatte, war mir klar: Entweder du musst sehr viel oder sehr wenig dazu schreiben... ich fürchte stark, es läuft auf „sehr viel“ hinaus, aber ich wollte dennoch direkt nach der Folge beginnen und somit kommt hier die Review zur ersten und einzigen Folge in der Geschichte von „Lost“, die keines der Hauptcastmitglieder enthält (abgesehen von reingeschnittenen Szenen aus Staffel 1), von Anfang bis Ende aus einer zwei Charaktere zentrierenden Rückblende besteht, nach wenigen Sätzen auf Latein komplett ins Englische übersetzt wurde, viele alte Fragen beantwortet ohne dabei doppelt so viele neue aufzuwerfen und – ich sag’s jetzt einfach – schlicht und ergreifend super-mega-ober-affen-geilst ist (okay, das trifft auch auf andere Folgen zu).
Also, Claudia – vermutlich eine Römerin – strandet auf der Insel, wo die Frau lebt und sie beschützt. Die Geburt von Jacob und seinem noch immer namenlosen Bruder weist starke Parallelen zu Ben, John und Aaron auf und das kommt wohl nicht von ungefähr. Ben und John sind beide Frühgeburten und ihre Mutter ruft einer anderen Person zu, wie ihr Sohn heißen soll – dies trifft auch auf Jacob zu. Ferner kommen sowohl Ben als auch Jacob im Wald zur Welt und ihre Mutter stirbt unmittelbar nach der Geburt. Mit Aaron verbindet die beiden vor allem die Geburt auf der Insel und die „Geburtshilfe“ einer einzelnen Frau, die sich der beiden annimmt – so wie es Kate mit Aaron tat. Allerdings hat Kate Claire nicht umgebracht. Die Frau (wobei ich finde, nach dem Ende der Folge, wäre „Eva“ ein sehr passender Nickname) tötet also die Mutter von Jacob und „Samuel“. Somit hat sie ihre beiden Kandidaten.
13 Jahre später findet „Samuel“ am Strand ein Senet. Senet ist das wohl älteste Spiel der Welt und einer alten ägyptischen Legende nach musste Nut im Senet gegen Thot gewinnen, um fünf zusätzliche Tage in jedem Jahr zu erhalten – an diesen Tagen gebar sie ihr fünf Kinder: Osiris, Seth, Nephthys, Isis und Horus den Älteren. Senet gilt ferner als Vorläufer von Schach und Backgammon – „Zwei Spieler, zwei Seiten – eine ist hell, die andere dunkel“. Aus diesem Spiel stammen also die berühmten schwarzen und weißen Steine, die vielerorts auftauchen. Es ist ein Symbol für den ewigen Konkurrenzkampf der beiden Brüder.
Da Jacob im Gegensatz zu „Samuel“ jedoch ein ziemliches Muttersöhnchen und obendrein ein beschissener Lügner ist („Jacob doesn’t know how to lie.““), aber auch weil das Senet von „Eva“ selbst kam, durchschaut sie Jacob rasch, als der heimkommt. Sie sucht „Samuel“ (oder nennen wir ihn jetzt BiB? Adam? Bob? – ich hab in letzter Zeit zu viel „Twin Peaks“ geguckt^^) auf und sagt mal wieder einen dieser Sätze, die wir schon auswendig können (von denen hat sie allerdings ein ganzes Arsenal anzubieten): „May I join you?“ (zugegeben: oft ist es auch: „Mind if I join you?“ – kommt aber aufs Selbe raus) Tja, jetzt sitzen die zwei da und starren aufs Meer. Kommt einem doch echt bekannt vor... Jack und John („Gefühl und Verstand“) , Jacob und MiB („Der Vorfall“), Ben und John/MiB („Der Vorfall“). „Eva“ sagt „Samuel“, er sei „special“ (ach, das konnte ja wieder gar keiner ahnen...). Und an diesem Punkt verlasse ich nun die Ebene der Nacherzählung und versuche lieber die einzelnen Aspekte zu verknüpfen, und so dem großen Ganzen möglichst nahe zu kommen.
Da wäre zunächst einmal das Licht, welches nicht nur von „Eva“, Jacob und „Samuel“, sondern auch von John Locke gesehen wurde – er berichtet Eko und Jack davon, nennt es das Auge der Insel und beschreibt es als „wundervoll“. Ob dieses Licht nun so etwas wie das Portal zur Hölle ist, sei zunächst einmal dahin gestellt. Wichtig ist, dass dieses Licht wohl das selbe ist, das wir auch bei Zeitsprüngen sehen oder das uns im Schwan oder am Rad begegnet, welches wohl von „Samuel“ und den Römern konstruiert wurde. Die Insel liegt also über diesem Licht, der Quelle, welche „Eva“ auch das „Herz der Insel“ nennt, hält es fest und ist dennoch auch eine Art Zugang zur Quelle. Der Kontakt mit der Quelle wird von „Eva“ als „Schicksal schlimmer als der Tod“ bezeichnet – Leben, Tod und (Wieder)Geburt sind darin vereint. Eine Verknüpfung der Quelle mit alten Mythen der Ägypter, Griechen und Römer bildet der Fluss, denn in diesen drei antiken Mythologien fließt ein Fluss (Nil bzw. Styx) in und durch die Unterwelt. Jacob schickt seinen Bruder also lebendig in das Totenreich und da er „Samuel“ wegen ihrer Mutter ebenso wenig töten kann wie „Samuel“ Jacob, stirbt er zwar, aber auch wieder nicht. „Samuel“ wird zu MiB durch Jacobs Handeln. Wir kommen da gleich noch einmal hin zurück.
„Eva“ zieht ihre sogenannten Söhne in dem Glauben auf, es gäbe nur die Insel – ein altbekannter Trick. „Samuel“ besitzt jedoch Hurleys Gabe und erfährt so – wie Ben – von seiner wahren Mutter so einiges. Auffällig ist auch hier wieder dieser Lichtschein, in dem Claudia erscheint – ähnlich wie Isabella oder Emily Linus. „Samuel“ erkennt sogar, dass seine Stiefmutter recht hatte, als sie sagte: „They come, they fight, they destroy, they corrupt“. Ja, er verinnerlicht diesen Grundsatz sogar so sehr, dass wir diesen Satz mit Ihm verbinden wie keinen zweiten. Dennoch lebt „Samuel“ unter diesen Leuten, wandelt unter ihnen, ist aber keiner von ihnen. Wie er auch Desmond gegenüber angedeutet hat, gruben die Römer und „Samuel“ selbst Brunnenschächte, um die elektromagnetischen Felder zu untersuchen. An einem dieser Schächte baute dann irgendwer das Rad fertig. Vielleicht war es sogar MiB selbst, der dann feststellte, dass er gefangen zwischen Leben und Tod als Mörder nicht von der Insel wegkonnte, dort festsitzt wie Michael, und ihm da auch das Rad nicht helfen kann. In dem Mord an „Eva“ offenbart sich dann aber „Samuels“ maßlose Arroganz: er selbst urteilt die Menschen augrund ihrer Verlogenheit und Brutalität ab, wird aber selbst zum Mörder an seiner eigenen Mutter, weil er Rache für deren Verbrechen will. Ihn selbst ereilt dann auch die Lynchjustiz. Doch worüber war „Samuel“ wirklich erbost? Wegen dem Massaker im Lager? Nein, er war sauer, weil ihm die Flucht verwehrt wurde. Jacob hingegen nimmt sein Schicksal unfreiwillig an, obgleich er nie Mamas kleiner Liebling war.
Der Mord ist aber auch eine weitere Parallele zwischen „Samuel“ und Ben, denn so wie „Samuel“ die Hüterin der Insel ermordet, so tötet auch Ben Jacob. Beide Opfer scheinen nicht wirklich besorgt über ihren Tod, „Eva“ bedankt sich sogar. Denn dieser Job scheint nicht gerade der Bringer zu sein und vermutlich war Jacob sogar froh, als „Samuel“ mit Ben bei ihm aufmarschiert ist. Doch da wir nun wissen, was passiert, wenn einer der Brüder den anderen töten will, könnte der Tritt ins Feuer aus Jacob auch ein Wesen zwischen den Welten gemacht haben, das dann ab und an im Wald auftaucht und MiB nervt? Und hoffte Jacob, sich in Ben geirrt zu haben, weil Ben so zu einem „Schicksal schlimmer als der Tod“ verdammt ist? Das Problem ist: wir wissen zwar, was wann passiert ist, aber nicht warum! Was machte „Samuel“ zum Rauchmonster? War es das Licht bzw. die Quelle? Die Unfähigkeit von Jacobs Hand zu sterben? Der Mord an seiner selbsternannten Mutter? Von allem etwas? Was passierte mit Ihm auf der anderen Seite und was kam von dort zurück? Ist das überhaupt noch Jacobs Bruder oder nur etwas, das seine Gestalt ebenso annahm wie später Johns, aber irgendwie Teile dieser anderen Persönlichkeit in sich aufnahm?
Und ist mit Ben, Desmond und John etwas ähnliches passiert, als sie mit dem Licht in Kontakt kamen und sie wissen es (bis auf Desmond) noch gar nicht? Die geschnittene Szene mit Ben aus Staffel 4, wo er seinen eigenen toten Körper am Boden liegen sieht, erinnert doch stark an „Samuels“ Leiche im Wald. Oder ist Desmond nun das Gegenstück zu MiB? Hat MiB auch diese Fähigkeiten? Reiste er durch Raum und Zeit, als Jacob ihn durch die Höhle schubste? Außerdem: wenn man zum Rauchmonster werden kann, könnte es wahrlich mehr als eines geben. Oder hockte das Rauchmonster nur hinter dem Licht der Quelle/Korken und als Jacob seinen Bruder hindurchschickte, öffnete er den Korken ein Stück weit und etwas kam von der anderen Seite hindurch?
Verknüpft man das dann wieder mit Rad, Vorfall, Schwan und der anderen Zeitlinie wird es ganz kompliziert. Hat Jacob am Ende sogar die Insel versenkt, als er „Samuel“ durch das Portal sendete? Überhaupt lernen wir Aspekte Jacobs kennen, die viele Fragen aufwerfen bzw. unbeantwortet lassen. Zunächst einmal ist es doch sehr verwunderlich, dass „Samuel“ bis zu dem Verrat seiner Mutter vollkommen pazifistisch agiert, während Jacob mehr als einmal die Fäuste sprechen lässt. Hier zeigt sich mal wieder wie äquivalent bei „Lost“ selbst die vermeintlichen Inkarnationen von Gut und Böse sein können. Die Fragen, warum Jacob zu „Samuels“ Gegenpart wird, ihn auf der Insel festhält und seinem Bruder beweisen will, dass die Menschen gut sind, bleiben weiterhin offen. Eigentlich rückt die Antwort durch ihre nun erwiesene Menschlichkeit sogar wieder in weite Ferne. „Samuel“ sagt es ja selbst: Auch sie sind Menschen. Ebenso bleibt unklar wie „Eva“ und später Jacob an die Listen mit den Kandidaten kommt. Und hat „Eva“ wie Jacob die Insel zuvor verlassen, um Claudia dorthin zu lotsen? Es ist folglich offenkundig, dass uns diese Folge nur einen Teil der Geschichte von Jacob und MiB erzählt und in den noch verbleibenden zweieinhalb Stunden da noch einiges kommen muss.
Zu der Auflösung des Rätsels um Adam und Eva sollte man wohl auch noch ein paar Sätze sagen: Ich bin ganz ehrlich und gebe zu, dass ich nun erstmals daran zweifle, dass Darlton immer alles genau wussten. Sie sagen uns ja seit Jahren, dass Adam und Eva später ihr beweis dafür sein werden, dass sie alles vorher schon wussten. Ich hab aber langsam doch das Gefühl, die dachten sich: „Eye, lass uns zwei Leichen in die Höhlen legen und zwei Steine in einem Säckchen dazu packen, die zu dem Schwarz-Weiß-Thema passen, und später denken wir uns dann eine Geschichte zu denen aus, damit wir zeigen können, was wir schon alles wussten!“ Die Leichen lagen da wie lange? 2000 Jahre? Mal abgesehen davon, dass sie wohl zwischendurch mal etwas rumgewandert sein müssen, da sich ihre Position verändert hat (oder Jacob hat sie hin- und her gebettet), ist das ganze schon etwas unstimmig. Und was ist mit dem angeblichen Easteregg, das uns Rose und Bernard als Adam und Eva verkaufen sollte. Ich will Darlton nichts unterstellen, doch auf mich wirkt dieser angebliche Kunstgriff doch etwas wackelig.
Nun bleiben noch so ein paar Kleinigkeiten. Die Frage nach dem letztendlichen Erbauer des Rades warf ich ja schon auf. Aber man fragt sich auch, wie diese Leute, von denen ich halt annehme, dass sie Römer sind, überhaupt herausgefunden haben, wie sie die Energiefelder der Insel nutzbar machen können. Wie sollte das Rad konstruiert werden? Wieso steht es später in einem unterirdischen Kühlschrank? Verständlich wird so aber zumindest Jacobs Abneigung gegen Technologie und man kann schon ahnen, wieso MiB die Insel über das Rad nicht verlassen konnte. Wieso er aber überhaupt bleiben muss, ist immer noch nicht klar, denn Jacobs Aufgabe scheint in keinerlei Zusammenhang zu „Samuels“ Schicksal zu stehen.
Ferner bleibt es doch ziemlich unklar wie „Eva“ die ganzen Leute getötet und den Brunnen zugeschüttet hat. Oder war sie es am Ende gar nicht?
Neben den bereits genannten kommen in der Folge aber noch viele andere Eastereggs vor: So knüpft und webt Jacob als junger Mann schon an seinem Teppich. Das Messer, mit dem „Samuel“ seine Stiefmutter tötet, wird über Richard, Jacob und Dogen bei Sayid landen, der damit MiB töten soll. Jacob und „Samuel“ sind Zwillinge, was sowohl ein Verweis auf „Bad Twin“ als auch auf Jakob und Esau ist. Ganz abgesehen davon erinnerte mich das Bild, wie die zwei da so lagen – Jacob ganz friedlich und teilnahmslos, Baby in Black da schon leicht mürrisch – sehr an die Simpsons-Halloween-Folge „Hugo, kleine wesen und Kang“ erinnert, wo Bart und sein böser Zwilling Hugo auch so da liegen.
Der Wein, mit dem Jacob später Richard die Insel erklärt, taucht in dieser Folge erneut auf. Hier dient er dazu, Jacob zum Hüter der Insel zu machen. Es ist wohl überflüssig, die Anspielung auf das Letzte Abendmahl noch großartig zu erklären. Zu guter Letzt möchte ich Jacob zu dem Wein allerdings noch sagen: Auch wenn Wein praktisch unbegrenzt haltbar ist, hätte ich mir nach etwa 2000 Jahren (oder gar noch mehr), glaub ich, doch mal eine neue Flasche gekauft. Wobei auch hier die Frage bleibt: wie soll Jacob einen neuen Kandidaten ernennen, wenn MiB die Flasche kaputt gemacht hat?
Ich denke vorerst war’s das mal und es ist doch weniger als ich eingangs dachte. Falls mir noch etwas einfallen sollte, wird es nachgereicht. Den rest überlasse ich euch und der Kommentarfunktion, denn wirklich alle Ansätze aufzudröseln, wäre ein Fass ohne Boden... „Every answer leads to another question“