Tag 10 – 1.10.2009:
Langsam hohle ich wieder auf, auch wenn ich diesen Eintrag mit einem Tag Verspätung eintippe und wohl mit zweien Verspätung fertig stelle und hochlade. Zum ersten Mal sind nur zwei Seiten meines Notizheftes beschrieben – sonst ist es das Doppelte. Daher nehme ich auch mal, dass die Review sich am Ende als sehr kurz herausstellen wird. Aber hinterher ist man immer klüger.
Muss ich Sawyers Verhalten noch groß analysieren oder interpretieren? Eigentlich ist uns doch allen klar, dass er sich selbst bestrafen will, weil er zu dem geworden ist, was er jagen und bekämpfen wollte. Er sucht die Konfrontation – er will von Kate gehasst, von Jack geschlagen und von Sayid gefoltert werden. Er wird zum Masochist, weil er Reue und Schuld empfindet und bestraft werden will. Da er aber gleichzeitig ein geborener Manipulator und Betrüger ist und seine Freiheit schätzt, käme er wohl nie auf die Idee sich der Polizei zu stellen und der Justiz auszuliefern. Stattdessen bringt er gezielt sein Umfeld gegen sich auf und zwar zwanghaft. Interessant daran ist in meinen Augen nach fünf Staffel einzig und allein das Muster des Charakters und die Dramaturgie. Bis Sawyers Geschichte am Ende dieser Folge aufgedeckt wird, war er der Antagonist der Serie. Er war der Charakter, den das Publikum in Ruhe hassen konnte, bis man dann in „Einzelhaft“ beginnt die Anderen einzuführen. Diese existieren als relativ anonyme Bedrohung für etwa eine Staffel. Da man ein Kollektiv von Gegnern ebenso schlecht ewig aufrecht erhalten kann, wie man auch bei den Helden nicht ohne Identifikationsfigur auskommt, kam Mitte der zweiten Staffel Ben ins Spiel. Er fungiert als das, was Sawyer in diesen ersten acht Folgen war, für zweieinhalb Staffeln. Ben konnte erst demaskiert werden, als der wahre Schurke schon am Ende der Staffel wartete und das Publikum mit Charles Widmore einen Charakter hatte, den man wirklich aus vollem Herzen verachten konnte. Vielleicht habe ich Ben auch deshalb schon in Staffel 2 verteidigt, weil ich mir damals schon dachte, dass er ein stückweit Sawyers Platz einnehmen würde und sich demnach mit der Zeit auch zum Anti-Helden entwickeln würde. Bei einer Serie wie „Lost“ kann man weder zu früh klare Fronten schaffen noch einen Schurken so lange mitschleppen, dass das Publikum ihn wirklich lieb gewinnt. Das ist das Problem bei Fernsehserien: Charaktere, die das personifizierte Böse sind, funktionieren nicht. Figuren wie Darth Sidious, Lord Voldemort oder Sauron leben davon, dass sie sich nur selten blicken lassen und man ihnen Faszination und Hass gleichermaßen entgegenbringt. Doch je mehr man eine Figur unterfüttert, umso mehr beginnt der Zuschauer Verständnis für sie aufzubringen. Wer zum Beispiel Harry Potter gelesen hat, wird bestätigen können, dass man Tom Riddle nach Band sechs nicht mehr richtig hassen konnte. Bei Serien haben wir zudem das Problem, dass der Zuschauer auch die Antagonisten über Jahre begleitet und das viel intensiver als bei einem Kinofilm. Die „Lost“-Macher sind bei Ben und Sawyer sehr geschickt vorgegangen und haben von Anfang an Zweifel gestreut, ob man sie nun als Schurken oder Helden sehen soll. Kaum eine als Schurke konzipierte Serien-Figur, die mehr als zwei Staffel überstanden hat, konnte sich als Verkörperung des Bösen etablieren. Ganz egal ob wir nun Sawyer und Ben nehmen oder uns einen Charakter wie Sylar („Heroes“) oder auch Logan Echolls („Veronica Mars“) ansehen: Das Publikum liebt solche Charaktere, weil sie sehr viel wahrhaftiger sind als schillernde Helden und dämonische Schreckgespenster. Zum Glück haben die „Lost“-Macher den Fehler vermieden Charaktere aus einer diesen beiden Kategorien zu kreieren.
Da wir also über Sawyer nicht viel Neues sagen können und auch die Handlung der Folge als solche wenige große Themen anspricht, gucken wir uns die Details genauer an: Sawyer liest das Buch „Watership Down“. Ich habe es zwar im Schrank stehen, bin aber leider noch nicht zum Lesen gekommen. Jedoch denke ich, dass zumindest die meisten von uns irgendwann mal die Verfilmung gesehen haben. Daher wissen wir alle: „It's about bunnies.“ Wer von dem Inhalt gar nichts weiß, sollte sich bitte die Zeit nehmen und Wikipedia bemühen, denn da bekommt ihr vermutlich ein besseres Bild als ich es durch eine kurze Inhaltsangabe, die die meisten langweilen würde, erzeugen könnte. Verzeiht mir also bitte, dass ich eine grobe Kenntnis des Inhalts einfach mal voraussetze. Ich will mich jetzt nicht darin verlieren, die ganzen Kaninchen bei „Lost“ aufzuzählen – weder reale noch metaphorische. Wir kennen sie alle von Bens nummerierten, zeitreisenden Puschelhäschen bis hin zu Jacks „Weißem Kaninchen“. Aber worum geht es in „Watership Down“ wirklich? Etwas Plakativ ausgedrückt: es geht um das Selbe wie bei „Lost“ – zumindest in den ersten drei Staffeln. Man kann eine Menge Parallelen ziehen: sowohl bei der Handlung als auch bei den Charakteren. Bei „Watership Down“ ist eine Gruppe von Kaninchen auf der Flucht vor einer für sie übermächtigen Bedrohung. Sie sind Verlorene, die auf sich gestellt in einer für sie fremden Welt klar kommen müssen. Bei den Charakteren muss man unterscheiden, ob man nun von unserem Wissensstand heute ausgeht oder von dem, was uns vor zwei Jahren noch suggeriert wurde. Denn wie oben erklärt, muss man gerade bei den Anderen festhalten, dass sie sich von den Feinden der Losties zu ihren „Beschützern“ entwickelt haben. Da wir uns aber noch in der ersten Staffel befinden, würde ich stark annehmen, dass wir den Bezug nicht in den Staffeln 4 und 5 suchen sollten, obgleich einige Vergleiche nach diesen beiden Staffeln stark hinken mögen. In den ersten Staffeln sind die Anderen für die „Losties“ jedoch ähnlich wie die Efrafa für die Kaninchen vom Watership Down (ihr merkt: ich habe die Anführungsstriche weggelassen, da ich jetzt den Hügel und nicht den Buchtitel meine ;-) ). Ben wäre demnach General Woundwort, obgleich er längst nicht so gewalttätig ist wie jener und anders als Ben es getan hätte ein Friedensangebot Hazels ausschlägt. Beide führen ihre Leute jedoch mit eiserner Hand, sorgen sich aber auch um sie. In späteren Staffeln ergeben sich aber auch Parallelen zwischen Charles Widmore und Woundwort. Hyzenthlay hätte, wenn man in Ben Woundwort wiedererkennt, jedoch in Juliet eine perfekte Entsprechung, da beide starke Frauen sind, die gegen ihre Anführer rebellieren und intrigieren, ehe sie am Ende sogar überlaufen. Jack und Hazel muss man als Paarung wohl nicht noch erklären. Für Fiver eine Entsprechung zu finden ist da schon schwieriger, auch wenn man bedenkt, dass dies eigentlich Boones Spitzname sein sollte. Locke hat Fivers Spiritualität, Desmond hat Vorahnungen, doch als schwaches und dennoch unverzichtbares Glied der Gruppe kommt er Charlie sehr nahe. Ähnlich schwierig ist es mit Bigwig, den man als Soldaten zwar in Sayid sehen könnte, der aber aufgrund seiner Stellung in der Gruppe und seiner Rolle im Kampf gegen die Efrafa wohl eher mit Locke gleichgesetzt werden könnte. Soweit bis hier hin zu den Kaninchen – wie gesagt: ich hoffe, dass ich mal die Zeit zu einem detaillierteren Vergleich finde.
Kommen wir als nächstes zu der Folterszene. Eines gleich vorweg: ich möchte mich an diesem Punkt nicht mit der Thematik „Sayid und Folter“ auseinandersetzen, denn dafür bekommen wir in späteren Folgen noch oft genug Gelegenheit und häufig sogar bessere. Mich interessiert vielmehr die Rolle, die Jack hierbei einnimmt. Ich weiß, dass der Einwand kommen wird, dass Jack – wenn meine Zeitschleifen-Theorie stimmen sollte – eigentlich wissen müsste, dass Sawyer die Inhalatoren (ein Wort, das Word nicht kennt... der macht mir da tatsächlich ’nen roten Kringel drunter und bietet mir „Inaladtoren“ an^^) nicht hat. Doch darum geht es mir jetzt gar nicht, auch wenn meine Hypothese dadurch Kratzer bekommt. Viel interessanter ist letztlich die Frage nach der moralischen und ethischen Vertretbarkeit seines Handelns. Wir erinnern uns, dass Sawyer Jack einst vorhielt, er würde nicht das große Ganze sehen, sei noch nicht in der Wildnis angekommen. Hier geht der Punkt eindeutig an Sawyer: er hat Jack von seinem hohen Ross geholt und ihn auf sein Niveau heruntergezerrt. Für mich war diese Folge vor knapp fünf Jahren der Punkt, wo Jack begann mir unsympathisch zu werden. Folter ist so ziemlich das Verwerflichste, was man einem anderen Menschen antun kann, da sie nur einem Zweck dient: das Opfer soll leiden. Jack entscheidet, dass Sawyers Unversehrtheit weniger wert ist als Shannons. Vom menschlichen Standpunkt her kann man dies vielleicht noch nachvollziehen, doch Jack ist Arzt und als solcher von seinem Berufsethos her verpflichtet, auch unsympathische Menschen gleichermaßen zu achten. Sawyer provoziert Jack genau damit: „Hey, Jack, there's something you should know: If the tables were turned, I'd watch you die.“ Denn was liegt in dieser Aussage versteckt? Zwischen den Zeilen sagt Sawyer damit: „Jetzt hast du dich schon auf mein Niveau begeben, dann sei auch konsequent!“ Sawyer will Jack zeigen, dass er nicht besser ist, denn das ist genau das Problem mit Jack: Er hält sich für erhaben. Für ihn gelten die Maßstäbe, die er bei anderen anlegt, nicht. Vielleicht könnte man sogar soweit gehen, dass Sawyer es (abgesehen von Kates Kuss) genau darauf angelegt hat: Jack und Sayid zu demütigen, indem er sie zu etwas treibt, was viel verwerflicher ist als sein eigenes Verhalten.
Dass Sawyer am Ende fast stirbt, ist wiederum nicht Jacks Schuld. Doch neben Sayid trägt dennoch jemand anders große Mitschuld daran und das ist Locke, der den Verdacht von sich auf Sawyer lenkt. Natürlich kam Sayids Wut auf Sawyer ihm gerade recht, um den Verdacht von sich abzulenken, ehe er überhaupt entsteht. Doch Sayid dann noch ein Messer zu geben kann man Locke nicht mehr so recht nachsehen. Am Ende ist Sawyer am Leben und Sayid auf der Flucht vor seinen eigenen Taten – wieder einer mehr.
Als Sawyer, nachdem Jack ihn zusammengeflickt hat, in seiner „Behausung“ am Strand erwacht, ist Kate bei ihm. Ehe sie auf den Brief zu sprechen kommt, sagt sie zu ihm: „You're lucky to be alive.“ Bei dem Satz hab ich gestutzt. Irgendwo hatte ich so etwas ähnliches schon mal gehört und ich hörte die Stimme meines Meisters, der sagte: „Be grateful you're still alive.“ Ich habe überlegt und überlegt, wann Ben das gesagt hatte und dann fiel es mir wieder ein: Als er Danielle Rousseau mit Alex im Arm verließ. Ihr werdet mir wohl recht geben, dass so ein Ausdruck durchaus etwas gönnerhaftes und zynisches hat, obgleich sowohl Kate als auch Ben durch ihr jeweiliges Handeln Sawyer bzw. Danielle vor noch schlimmerem bewahrt haben.
Es gab aber noch einen Satz, der mich aufhorchen ließ, oder vielmehr ein ganz bestimmtes Wort, wodurch mir auch bewiesen wurde, dass die Entscheidung die Folgen dieses Mal auf Englisch zu gucken goldrichtig war. David fragt Sawyer im Lokal: „What is this? A loophole?“ Vielleicht ist das ja völlig bedeutungslos, vielleicht sagt es aber sehr viel über den Zusammenhang zwischen Betrug, Manipulation und „Schlupflöchern“ aus. Denn es sieht doch ganz danach aus, dass das, was „Samuel“ für sein „Loophole“ hält, vermutlich eine Falle Jacobs ist/war/sein wird... welche Zeit auch immer.
Wo wir nun gerade mal wieder bei Jacob sind, müssen wir natürlich auch auf den Brief zu sprechen kommen. Hier wird zunächst einmal ersichtlich: Jacobs Weitsicht übersteigt „Samuels“ wohl noch einmal um einiges, denn selbst wenn Jacob gewusst hätte, dass Jim LaFleur in Wahrheit James Ford hieß und einige hundert Kilometer entfernt gerade miterlebt wie sein Vater erst seine Frau und dann sich selbst erschießt, bedarf es immer noch verdammt guter Planung ihn genau in dem Moment anzutreffen, in dem er den Brief schreiben wird, der ihn 30 Jahre später auf die Insel führt. Wäre Jacob an jenem Tag nicht bei der Beerdigung gewesen und hätte James mit einem Stift ausgeholfen, wäre der Brief vermutlich nie geschrieben worden und James wäre nie so besessen davon gewesen, jenen Mann zu finden, der seine Eltern tötete. Über eine Frage zerbreche ich mir aber immer noch den Kopf: Warum will Sawyer den Brief zunächst verbrennen und tut es dann doch nicht?
Ich gucke gerade mal so auf meine Notizzettel und abgesehen von einer nicht sehr gelungenen Karikatur von Ben und viel durchgestrichenem Zeug, stehen da noch zwei Sachen: „Eukalyptus“ und „Erdnussbutter => bescheuert!“ Da ich aber nicht mehr weiß, woran mich das – abgesehen vom offensichtlichen – genau erinnern sollte bzw. ob es mich überhaupt an etwas erinnern sollte, beende ich diese Zusammenfassung mal. Wenn alles gut läuft, bekommt ihr den Eintrag zu „Einzelhaft“ noch gegen Abend.
Macht’s gut und genießt den Feiertag!